Gnade sei mit uns und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.
Liebe Gemeinde,
„Früher war alles besser“. Ich denke, dass alle, die hier sind, diesen Satz schon mal gehört haben.
„Früher war alles besser“: Warum sagen Menschen das?
Jugendliche, die das hören, verdrehen häufig die Augen. Sie können mit dem „Früher“ wenig anfangen, sodass dieser Satz eine Kluft entstehen lässt zwischen den Älteren, die das sagen, und ihnen.
Manchmal wecken Menschen, die das sagen, den Eindruck, als würden sie nicht gerne im Heute leben, als hätten sie Sehnsucht nach alten Zeiten. Verklären sie damit die Vergangenheit?
Und dann kommt man in ein Alter, in dem man sich selbst ab und zu selbst bei diesem Gedanken erwischt … dass zumindest manches früher besser war. Ich bekenne mich „schuldig“
Wofür steht diese Äußerung? „Früher war alles besser“ Heißt das, dass jemand verunsichert ist? Dass er oder sie sich nicht zurechtfindet oder nicht zurechtfinden mag in den heutigen Lebensbedingungen?
War früher manches klarer? Oder wird die Vergangenheit verklärt, weil nur noch die angenehmen Erinnerungen vor Augen stehen und das Schwere vergessen ist?
Vermutlich stimmt von manchem ein wenig. Sicher ist: Diese Äußerung ist nicht neu.
Früher hat man auch schon gesagt, dass früher alles besser war….
Ein Zitat gebe ich Ihnen zum Besten: „Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewusst ein ungepflegtes Aussehen, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen übernommene Werte“. Klingt doch ganz und gar nicht angestaubt, oder? Dabei stammt dieses Zitat von einer Tontafel aus der Kultur der Sumerer ungefähr 3000 Jahre vor Christus; das sagt man also schon seit mindestens 5000 Jahren.
Lassen Sie uns einmal anders schauen auf diesen „Lebensseufzer“, denn Anlass für meine Bemerkungen bietet der Text aus dem Alten Testament, den wir vorhin gehört haben.
Unser Predigttext ist ein Zeugnis, das ebenfalls schon einige tausend Jahre alt ist, bei dem sich eine ganze Gruppe von Menschen dem sehnsuchtvollen Blick nach der Vergangenheit hingibt und am liebsten zurück will, zurück in die alten Zeiten.
Ganze sechs Wochen sind sie unterwegs, seit sie aus Ägypten fliehen konnten. Eineinhalb Monate. Wenn sie gewusst hätten, dass aus diesen sechs Wochen vierzig Jahre werden würden…? Aber das ist nur ein Gedanke zwischendurch.
Das Volk beschwert sich bei seinen Anführern. Die Menschen haben Hunger. Es gibt nichts zu essen. Nachvollziehbar, dass sie dann murren. Und klar, dass die Menschen zu ihren Anführern, zu Mose und seinen Bruder Aaron, gehen. Bloß, was sie jetzt sagen, ist trotzdem bemerkenswert: „Früher haben wir an den Fleischtöpfen gesessen und genug Brot zu Essen gehabt. Ach, wären wir doch in Ägypten geblieben!“
Wohl gemerkt: Ägypten, das war das Land, aus dem sie geflohen waren, weil die Ägypter sie als Sklaven gehalten hatten. Aus dieser bedrängten und bedrohlichen Situation hat ihr Gott sie gerettet. Ihr Gott, der Gott des Volkes Israel, hatte Mose als Anführer ausgewählt und die Menschen befreit. Er hatte ihnen die Flucht ermöglicht. Gerade erst hatte sein Volk auf wunderbare Weise trockenen Fußes durch das Schilfmeer wandern lassen, während die Wassermassen über den Verfolgern wieder zusammenschlugen.
Ein paar Tage später dann der Seufzer „früher war es besser“, mehr noch: „Wären wir doch in Ägypten gestorben, statt hier in der Wüste zu hungern.“
Was auffällt: die Menschen haben all das offenkundig vergessen, das dieses „Früher“ gar nicht so gut dastehen lässt: Sie waren unterdrückt, der Pharao hatte sogar Säuglinge töten lassen. Sie waren gefangen in Sklaverei, abgesehen davon, dass es sehr fraglich ist, ob sie als Sklavinnen und Sklaven überhaupt viel von den ägyptischen Fleischtöpfen abbekommen haben.
So verständlich es ist: Hunger ist quälend, aber nur weil die Gegenwart schwer ist, war die Vergangenheit noch lange nicht besser!
Wie ging es weiter? Gott sorgte für seine Menschen. Er schickt offenkundig zuerst sogar Fleisch! Wachteln fallen einfach vom Himmel – das klingt nach Schlaraffenland (wenn Sie sich nicht vegetarisch ernähren…). Das Eigentliche geschieht am nächsten Morgen, als sie am Boden etwas Fremdes sehen und sagen „Man hu“? – das ist Hebräisch und heißt schlichtweg „was ist das?“. Die Bezeichnung Manna in der Wüste stammt von diesem Ausruf.
Die Menschen sammelten das Manna – aber sie sollten ausdrücklich nicht mehr sammeln als sie brauchten. Und wer sich nicht daran hielt, konnte erfahren, dass alles, was übrig blieb, verschimmelte, das Sammeln von Vorräten brachte gar nichts.
Diese Geschichte ist eine große Herausforderung, nämlich wie man Enttäuschungen bewältigt, wie man sich öffnet, wie man lebt im Hier und Jetzt und dabei Vertrauen entwickelt!
Bildlich lässt sich vieles von den Erfahrungen in der Wüste auf unsere Lebensbedingungen übertragen:
Gott befreit uns von den must have-Vorstellungen, von dem, was so unbedingt sein muss, von dem, wie Dinge laufen müssen, weil wir uns sonst übergangen oder überfordert fühlen.
Gott befreit uns, damit wir unseren Blick auf die aktuelle Situation richten können, ohne dass die Trauer um die Vergangenheit uns lähmt. Dazu gehört allerdings Vertrauen.
War früher alles besser? Da ich diese Redeweise von der Kanzel aus in Erinnerung rufe, darf ein Blick auf unsere Kirche nicht fehlen. Denn auch über die Kirche höre ich immer wieder „früher war alles besser“. Früher gehörten mehr Menschen zur Kirche, früher hatte die Kirche in der Gesellschaft einen ganz anderen Status, früher – diese Reihe ließe sich weiter fortsetzen.
Ich möchte Ihnen persönliche Erfahrungen schildern: In den letzten Monaten habe ich vor Gottesdiensten, Veranstaltungen oder Sitzungen häufiger bei anderen nachgefragt, wie was in dieser Gemeinde oder jenem Gremium üblicherweise gehandhabt wird. Schließlich bin ich noch kein Jahr hier als Superintendentin und kenne nicht alle Vorgänge. Wenn ich also pragmatisch klären wollte, wie wir dies oder jenes jetzt tun, dann bekam ich häufiger als Antwort: Ja, früher waren wir ja mehr Leute, da haben wir das so und so gemacht. Aber das geht ja nicht mehr. – Auf meine pragmatisch gemeinte Frage kam mir ganz viel Trauer entgegen. Als würde es schwer fallen, miteinander zu überlegen, wie wir eine konkrete Aufgabe anpacken, weil anlässlich dieser Frage alle Erinnerungen hochkommen an andere Zeiten, in denen wir mehr Leute waren. Zeiten, in denen vieles besser war. Mich stimmt das sehr nachdenklich. Wenn Trauer um Verlorenes uns daran hindert, unser Leben heute anzupacken: wenn das Verlusterlebnis frisch ist, dann ist das völlig normal. Dann braucht man erst einmal Kraft und Mut, die nächsten Schritte unter ganz neuen Bedingungen zu gehen. Aber die Trauer darf uns als Gemeinde, als Kirche nicht lähmen!
Sicher, die Kirche war bei Gottesdiensten voller: Aber nicht alle, die da saßen, waren aus freien Stücken da. Erwartungsdruck anderer ließ manche zur Kirche gehen, deren Herz für das Evangelium nicht automatisch offen war. Und so lassen sich weitere Beispiele aufzählen. Was ich sagen will: Es gibt sicher vieles, das früher besser war. Aber es wäre je genau zu klären, wann dieses früher war und unter welchen Bedingungen das wirklich besser war.
Früher war zum Beispiel die gesellschaftliche Rollenverteilung klarer, jede Person wusste leichter, wo ihr Platz ist. Andererseits durfte noch zu meinen Lebzeiten eine Frau nicht ohne Zustimmung ihres Mannes arbeiten gehen oder ein Konto eröffnen. Das kann ich nicht besser finden!
Ma na? Was ist das? Was ist das heute? Wie können wir umgehen mit all den individualisierten Entscheidungszwängen, mit Unfrieden und Unklarheiten?
Ma na? Was ist das? Wie können wir umgehen mit einer kleiner werdenden Kirche? Die neuesten Prognosen sagen, dass die Mitgliederzahl im Kirchenkreis Nienburg zwischen 2010 und 2035 um knapp die Hälfte zurückgehen wird, von 40.000 auf 21.000.
Früher, ja früher…
Wie können wir heute damit umgehen? Wie wollen wir in die Zukunft gehen?
Für das Heute bekommen wir Manna: Denn die gute Nachricht ist, dass die Botschaft des Evangeliums in ihrer Kraft nicht abnimmt. Unser Gott wird nicht halbiert, wir dürfen weiter jeden Schritt von Gott begleitet gehen. Immer genug für jeden einzelnen Tag. Weder Vorräte sammeln noch gebannt zurückschauen hilft für das Heute.
Was ich mich für uns als Kirche frage: Wenn viele Menschen so viel Trauer im Herzen haben um das, was nicht mehr möglich ist – wo ist der Raum, um diese Trauer zu bearbeiten? Welche Wege gibt es, um sich miteinander der Gegenwart zuzuwenden?
Die vollen Kirchen zu sonntäglichen Gottesdiensten sind ebenso Vergangenheit wie die Fleischtöpfe Ägyptens.
Was ist das heute? Denn Manna – im übertragenen Sinne – hat Gott für uns ebenso bereit wie für sein Volk damals in der Wüste. Für jeden Tag genug, um vertrauensvoll, bewusst im Heute zu leben. Lasst uns die Augen und Herzen offenhalten und miteinander entdecken, welche Wege wir gehen können! Dazu gehört sicher auch Mut und Nüchternheit, dazu gehört aber ebenso, dass wir uns – verschieden wie wir sind – unterstützen und austauschen über Ideen, Erfahrungen und Hoffnungen.
Manna, das war etwas zu essen, das die Israeliten vorher noch nie gesehen oder geschmeckt hatten. Sie wurden mit etwas Neuem beschenkt. Ich bin sicher, auch bei uns kann Neues entstehen. Dafür möchte ich gerne zusammen mit Ihnen die Augen und Herzen offenhalten, um miteinander im Hier und Jetzt lebendige Kirche zu sein. Es gibt zahlreiche Ideen, wie das aussehen könnte. Aber es ist vielleicht Manna und nicht das altgewohnte Frühstücksbrötchen, um noch einmal das Bild zu bemühen.
Gott hilft uns, in der Gegenwart zu leben und bewusst unser Leben als eines zu erfahren, das er uns ermöglicht. Von der Hand in den Mund hat das Volk Israel in der Wüste zu leben gelernt. Dann wird er uns auch nicht allein lassen.
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.