Liebe Gemeinde, ich frage mich, wo sitzen wir eigentlich mal mit Menschen an einem Tisch, deren Gesellschaft wir uns nicht ausgesucht haben?
Manchmal kommen meine Töchter von Partys zurück, bei denen mehrere Gruppen eingeladen waren, die sich nicht kannten. Immer wieder ein Risiko: Mischen die Klassenkamerad:innen sich mit den Nachbarskindern aus demselben Ort, die aber auf eine andere Schule gehen? Kommt man über die Musik beispielsweise ins Gespräch oder über Influencer, denen man gemeinsam auf Tiktok folgt? Wo findet man Gemeinsamkeiten?
Ans traditionelle Pellkartoffelnessen hier in Nienburg muss ich denken. Seit 35 Jahren gibt es die Tafel, die sich im Juni die Lange Straße entlangzieht, mit Tischdecke und Porzellangeschirr. Weil die Stadt, die Blaue Garde, die Nienburger Bürgerinnenkompanie und die teilnehmenden Wirte die Nienburger dazu einlädt. Über die beteiligten Künstler wie Momo und die Musikgruppen – und natürlich über das Essen kommt man mit den Tischnachbarn ins Gespräch.
Jesus hat selbst nicht eingeladen. Er hatte kein Esszimmer, in dem er festlich den Tisch decken konnte. Er hatte nicht einmal eine Haustür, die er weit für Gäste hätten öffnen können. Aber wenn er bei jemandem zu Gast war, dann setzten sich viele dazu, die sonst eher unter sich blieben. Dann wurde es eine bunt gemischte Gesellschaft, die beisammen war. Sich vielleicht erstmals und zögerlich zunächst in die Augen sah. Die miteinander aßen und anfangs noch stockend nur ins Gespräch kamen.
Von einem Essen mit Jesus werde ich Ihnen erzählen und lese zunächst den Predigttext, den die Ordnung für heute vorschlägt: aus dem Mattäusevangelium Kapitel 9 die Verse 9-13.
Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.
Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern.
Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?
Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.« Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.
Liebe Gemeinde, ich schaue auf diese Szene und stelle mir vor, wer bei Jesus am Tisch sitzt. Mir fällt natürlich Matthäus ein, der Zöllner, den er gerade berufen hat, sein Jünger zu werden. Und die anderen Jünger, die er vor Matthäus schon gewonnen hatte. Und Matthäus‘ Zollkollegen. Ich denke auch an Ehebrecher und Prostituierte, Gewaltverbrecher und Betrüger. Sie werden im Neuen Testament „Sünder“ genannt. Und es heißt ja, es seien Zöllner und Sünder bei Tisch zusammen.
Auf jeden Fall eine bunt gemischte Gruppe, die sonst nicht viel miteinander zu tun hat. Man kennt sich vielleicht vom Sehen, aber trifft sich normalerweise nicht auf derselben Party.
Bei Jesus schon.
Matthäus richtet das Festgelage aus. Recht spontan, so wie sein Abschied aus seinem Leben ein spontaner Entschluss ist. Ohne lange Vorbereitungszeit. Daher ist es gewiss kein förmlicher Empfang mit großen Reden. Eher mit großen Emotionen. Und die, die mitfeiern, die stehen Matthäus nahe oder sie kommen, weil sie diesen widerständischen Jesus toll finden. Oder zumindest interessant.
Ich stelle mir vor, es sind erst wenige, Familie und Nachbarn, ein paar Kollegen nur, die zur eilig vorbereiteten und reichlich improvisierten Feier kommen, um Adieu zu sagen. Etwas Wein und Brot und Fleisch bringen sie mit. Man kann ja einem wegziehenden Jünger in spe schlecht Geschenke machen…
Alle sind zunächst ein wenig schüchtern, keiner weiß, was er sagen soll. Wann erlebt man auch sowas schon? Und dann werden es immer mehr, und Matthäus und seine Familie tragen immer mehr Tische nach draußen, das Esszimmer reicht ja längst nicht mehr. Und irgendwann muss es auch ohne Tische gehen. Und es werden immer mehr Menschen, neugierig angezogen von den lauter werdenden Diskussionen, den erstaunten Ausrufen und dem Lachen. Und wer weiß, vielleicht gab es mit fortschreitendem Abend auch Musik und das eine oder andere Tänzchen?
Ein bisschen muss ich dabei an die Flurfeten an der Kirchlichen Hochschule denken. Ein Wohnheimflur lud ein, es gab ein bisschen was zu essen und zu trinken, was in der Regel viel zu schnell weg war. Dann holten die, die auf den anderen Fluren lebten, schnell was von sich noch dazu. Und irgendwie reichte es dann auch für die Externen. Man kannte gar nicht alle, die da waren, denn viele brachten ihre Freundin oder ihren Freund mit. Aber es war immer nett. Gut, laut war es auch. Das werden nicht alle Nachbarn gut gefunden haben.
Und auch die Party bei Matthäus sehen manche kritisch: Die Pharisäer stehen am Gartenzaun und lästern: Was ist das hier für eine Party? Mit wem lässt Jesus sich hier ein? Das ist nicht gut für den Ruf und bringt doch nichts als Ärger.
Ich muss sagen, ich kann es auch nicht verstehen. Aber ich finde es ziemlich mutig. Schließlich werden Jesus und seine Gäste auch nicht bei allem derselben Meinung gewesen sein. „Nein, so viel Zoll zu nehmen, damit dein Profit hoch ist, ist überhaupt nicht gut“, dürfte Jesus gesagt haben. „Ich muss aber auch mal an mich denken, und ich habe Familie, und weißt Du überhaupt, was die Ausbildung meines Sohnes so kostet“, mag vielleicht ein Kollege von Matthäus geantwortet haben.
Also ich meide eher die Leute, die eine total andere Einstellung haben als ich und setze mich nicht von mir aus zum Essen mit Leuten zusammen, die beispielsweise Drogen verkaufen oder über Menschen anderer Herkunft schimpfen. Jesus hatte diese Berührungsängste nicht.
Er hat nicht über die anderen geredet, sondern mit ihnen. Er hat nicht nur diskutiert und seine Meinung gesagt und von Gott erzählt. Er hat mit den Menschen gefeiert und Gemeinschaft gehabt. Er ist ihnen auf Augenhöhe begegnet und hat sie akzeptiert, wie sie waren. Er verstand seinen Auftrag darin, für sie da zu sein. Gerade für die, die andere abzockten oder verletzten oder oder…
Gemeinschaft mit ihm und in seinem Namen, Gemeinschaft so unterschiedlicher Menschen untereinander und mit Gott – die wollte Jesus stiften. Denn so sieht das Reich Gottes aus, so will Gott es haben.
Sehr viel später dann, als Jesus allein war mit seinen Jüngern, beim Passahfest in Jerusalem, da nahm er das Brot und sagte: „Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird.“ Und er nahm den Kelch: „Das ist mein Blut, das vergossen ist zur Vergebung eurer Schuld.“
Und das zeigt uns: der Gartenzaun ist nicht unser Platz. Und zu den Gerechten zählen wir auch nicht. Wir gehören mitten hinein in die bunt gemischte Festgesellschaft.
Wir haben als die, die sich zum Gottesdienst hier treffen, ja auch nicht alle immer so viel miteinander zu tun. Wir kennen uns teils kaum und treffen uns normalerweise nicht auf denselben Partys. Bei Jesus schon.
Bei ihm sind wir alle gleich. Keiner ist besser und keine schlechter. Und auch wenn wir heute kein Fest miteinander feiern, nicht zusammen an einem Tisch richtig essen und trinken, wollen wir es dennoch zumindest im Kleinen tun: Gemeinschaft halten. In Brot und im Saft der Trauben. Mit Jesus mitten unter uns. Und in seinem Namen. Abendmahl feiern. Und daran festhalten: So wird es im Reich Gottes sein. Nur noch bunter und fröhlicher.
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war
und der da kommt.
Liebe Gemeinde, stellt euch vor: Eine aktive, eine lebendige, eine starke Gemeinde. Die Mitglieder können so viel, sind begabte Redner und großzügige Spenderinnen, kluge Organisatoren und fähige Musikerinnen. Sie können begeistern und die Bibel erklären, beten viel und stehen fest im Glauben.
Doch anstatt sich daran zu freuen, gibt es Streit.
Was ist richtig, wer hat Recht? Es entstehen Gruppen, die miteinander konkurrieren. Man macht sich gegenseitig Vorwürfe:
Ich bin der wahre Christ, weil ich in Zungen rede. Du nicht.
Ich bin die echte Christin, weil ich mein letztes Hemd hergebe. Du nicht.
Ich bin wirklich christlich, weil ich mich an die Speisegebote halte. Du nicht.
Sie ahnen es schon, ich spreche nicht von St. Martin, sondern so war es in der Gemeinde in Korinth.
Stellt euch vor, sagt der Apostel Paulus, eure ganze Stärke nützt euch nichts. Egal wie konsequent, wie genial oder wie gläubig ihr seid – wenn ihr keine Liebe habt, ist alles umsonst.
Ich lese den Anfang unseres heutigen Predigtextes. Das so genannte Hohelied der Liebe im Neuen Testament: das 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes:
Der Apostel Paulus schreibt an die Gemeinde in Korinth:
Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle Habe den Armen gäbe und meinen Leib dahingäbe, mich zu rühmen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze. (VV.1-3)
Lieblosigkeit macht alles kaputt, ruft Paulus ihnen zu. Auslöser ist die Feier des Abendmahls. Da fangen die einen schon früher an und lassen kaum mehr etwas für die anderen übrig. DieMitglieder, die Sklaven sind, müssen länger arbeiten. Wenn sie dann dazukommen, sind nur noch die schäbigen Reste da. Ausgerechnet beim Mahl der Liebe zeigen die Christinnen und Christen in Korinth, dass sie keine Rücksicht aufeinander nehmen und nicht in Liebe aneinander denken.
Aber immer Rücksicht nehmen, immer an alle anderen denken, immer lieben – kann man das schaffen?
Kennen Sie die Bücher vom kleinen Raben Socke? Meine Lieblingsgeschichte aus dieser Kinderbuchreihe ist die übers Bravsein. Der Rabe Socke will das Bravsein erlernen, weil er sonst keine Geburtstagsgeschenke bekommt. Und immer, wenn er seine Freunde fragt und von ihnen hört, was man alles tun muss, um brav zu sein, ruft er entgeistert: Das schafft doch keiner.
Wenn ich die Ansprüche des Apostels an die Liebe lese, möchte ich auch rufen: Das schafft doch keiner! Ich lese die weiteren Verse aus dem Hohelied der Liebe:
4 Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, 5 sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, 6 sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; 7 sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. 8 Die Liebe höret nimmer auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird.
„Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles.“ Das schafft doch keiner! Oder doch. Einer schon. Jesus ist konsequent den Weg der Liebe gegangen. Dafür wurde er angegriffen und starb am Kreuz. Er hat sich verwundbar macht. Das ist wohl so: Wer liebt, macht sich verwundbar.
Kann so lieben also nur der Eine, der nicht nur Mensch, sondern auch Gott ist? Warum hält Paulus den Korinthern und uns dies unerreichbare Ideal der Liebe vor Augen?
Um das zu beantworten, finde ich Verse aus einem anderen biblischen Brief hilfreich, dem 1. Johannesbrief. Dort steht: „Gott ist die Liebe.“ Und weiter zusammengefasst: Wir können lieben, weil Gott uns zuerst geliebt hat. Das macht uns erst fähig zu lieben. Liebe ist immer wieder eine Gabe Gottes. Und noch ein Zitat: „Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Nur mit Gottes Hilfe, mit Gott verbunden können wir so lieben, wie es das Hohelied ausführt. Aber da wir nicht eins sind mit Gott, ist die Liebe in uns immer gebrochen, nie rein.
Es wird auch nirgendwo erwartet, dass wir so vollkommen lieben wie Gott. Die Liebe erträgt alles, hofft alles…. - die Liebe, die Gott ist. Wir partizipieren an dieser Liebe, wir lassen uns davon schenken. Aber zur Vollkommenheit gelangen wir nicht. Keine von uns vermag alles zu ertragen, alles zu glauben, alles zu hoffen, alles zu dulden…
Stellen Sie sich die Liebe vor als ein Brot. Es duftet wunderbar und ist schön anzusehen. Es ist lebenswichtig. Es nährt uns. Wir empfangen es mittelbar von Gott. Denn Gott lässt wachsen, was es dazu braucht. Und Gott lässt es durch unsere Hände gehen.
Die Liebe ist wie ein Brot. Sie geht durch Menschenhände und -arme und -herzen. Und wir haben nie das ganze Brot. Einer allein ein ganzes Brot? Nein. Aber eine Scheibe können wir uns davon abschneiden. Jeden Tag.
Und dann, stellt euch vor, liebe Gemeinde, ihr liebt, so gut ihr könnt. Stellt euch vor, die Liebe wäre in allem, was ihr sagt und tut, - und sei es nur in ganz dünnen Scheiben.
Wie würden eure Leserbriefe aussehen? Wie würdet ihr über junge Menschen sprechen, die sich in ihrer Sorge um die Zukunft der Erde auf die Straße kleben? Würdet ihr hinnehmen, wenn Geflüchtete als Verbrecher abgestempelt werden? Wie würdet ihr über eure Nachbarn, Verwandte oder Kolleginnen denken, die so vermeintlich ärgerliche Sachen sagen oder tun, wäre die Liebe in euch?
Gut, von Scheiben oder Scheibchen steht nichts in der Bibel, aber von „Stückwerk“. Ich lese den Schluss unseres Predigttextes:
Paulus schreibt: 9 Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. 10 Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. 11 Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. 12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.
Ja, wir erkennen nur Bruchteile. Wir sehen nie das Ganze. Wir verstehen nicht, warum dies oder jenes geschieht. Und das ist oft ziemlich bitter! Unser Leben ist Fragment. Es ist ein Puzzle mit mehr Löchern als Bild. Wie auch unser Glauben. Und unser Lieben - ist genauso bruchstückhaft.
Keine von uns ist vollkommen und keiner muss es vor Gott sein. Und ich wünschte, wir wären gnädiger mit anderen und mit uns selbst.
Es gibt einen schönen kleinen Text des von mir geschätzten Theologen Hans-Joachim Eckstein:
Unser Mangel an Liebe
kann nichts an Gottes Liebe ändern,
aber Gottes Liebe
alles an unserem Mangel an Liebe.
Unser Unglaube
lässt Gott nicht schwächer werden,
aber Gottes Kraft
macht unseren schwachen Glauben stärker.
Durch unsere Verzweiflung
wird die Wirklichkeit des Himmels kein bisschen kleiner,
aber durch das Wirken des Himmels
unsere Hoffnung sehr viel größer.
Denn selbst unsere Sünde
kann Gott nicht von seiner Liebe abbringen –
aber seine Liebe uns von der Sünde.
Das Hohelied der Liebe wird gerne bei Trauungen gelesen. Den letzte Vers habe ich Ihnen noch vorenthalten. Er ist wahrscheinlich der beliebteste aller Trausprüche. Aber auch auf Friedhöfen finden wir ihn, auf unserem Leintorfriedhof zum Beispiel. Mit ihm will ich schließen:
13 Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
Und der Friede Gottes, der so viel höher ist als all‘ unsre Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Liebe Gemeinde,
der damalige Superintendent meines Heimatkirchenkreises in Wuppertal und spätere Präses, Manfred Rekowski, erzählte einmal von einem Vortrag eines Benediktinerabtes. Rekowski war zu einer Veranstaltung eingeladen worden, bei der es um das Thema „Gehorsam“ ging. Er sei recht lustlos dorthin gefahren, berichtete er. „Gehorsam“, was für ein Thema! Ist das nicht ein Relikt aller Tage? Und auf dem Weg zu dem Vortrag entwarf er in Gedanken ein evangelisches Gegenprogramm unter der Überschrift „Freiheit und Widerstand“. Auch ich denke bei Gehorsam gleich an „Kadavergehorsam“ und dass blinder Gehorsam brandgefährlich sein kann.
Doch bevor ich Ihnen von dem Vortag des Abtes erzähle, lese ich den Predigttext für heute. Die Perikopenordnung, die für jeden Sonntag einen Bibeltext vorschreibt, sieht für heute drei Verse aus dem Hebräerbrief vor. Ich lese aus Hebräer 5 die Verse 7 bis 9 nach der Guten Nachricht Bibel.
Als er noch auf der Erde lebte,
hat Jesus sich im Gebet mit Bitten und Flehen an Gott gewandt,
der ihn vom Tod retten konnte.
Mit lautem Rufen und unter Tränen hat er seine Not vor ihn gebracht.
Weil er treu zu Gott hielt, ist er schließlich auch erhört worden.
Und doch: Obwohl er Gottes Sohn war,
hat er zunächst durch das, was er durchmachen musste,
Gehorsam gelernt.
Nachdem er nun das Ziel erreicht hat,
ist er für alle, die ihm gehorchen,
zum Begründer ihrer ewigen Rettung geworden.
Liebe Gemeinde, Novizen, also angehende Mönche, und Mönche sind ihrem Abt gegenüber zu Gehorsam verpflichtet. Der Abt leitet das Kloster. Aber zu gehorchen muss jeder Klosterbruder auch erst einmal lernen. Widerspruch und Widerworte, erzählte der besagte Abt, waren in seinem Leben als „Anfänger“ im Kloster - aber auch später noch - an der Tagesordnung.
Noch spannender wurde der Vortrag aber, als er vom Gehorsam als Abt berichtete: Das sei 16mal schwerer gewesen als der Gehorsam als Mönch. Denn, so seine Erklärung: Die Mönche gehorchen einem Abt. Aber er als Abt gehorche allen 16 Mönchen. Seine vornehmliche Aufgabe als Abt sei nicht der Gehorsam gegenüber Ordensoberen, sondern Gehorsam gegenüber denen, die er zu leiten hatte. Was war damit gemeint?
Mein etymologisches Wörterbuch sagt: Im Wort „Gehorchen“ steckt „horchen“. In „Gehorsam“ „hören“.
Als Abt muss er 16 Mönchen „gehorsam sein“ im Sinne von: hören, was ihre Bedürfnisse sind. Seine Herausforderung ist es zum einen, auf die Bedürfnisse jedes einzelnen seiner Mönche und Novizen zu hören. Aber zugleich muss er die Führung behalten, also schauen, wie auch Gegebenheiten berücksichtigt werden und die Gemeinschaft geschützt wird. Nicht jedem Bedürfnis kann nachgegeben werden. Denn die Bedürfnisse des einen schränken wiederum die eines anderen oder die Gemeinschaft ein. Da gilt es für Abt, auf der einen Seite gut hinzuhören und auf der anderen Seite abzuwägen, was Priorität hat.
Liebe Gemeinde, im Hebräerbrief heißt es: Selbst Jesus, Gottes Sohn, hat Gehorsam gelernt, durch das, was er durchmachen musste. Dabei ist an sein Leiden zu denken: Sein Wissen, sterben zu müssen. Sein Gebet: „Vater, lass diesen Kelch an mir vorübergehen, doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ An seine Gefangennahme, Verurteilung und Demütigung. An seine Kreuzigung, sein Tod.
Jesus hat Gehorsam gelernt und damit Vertrauen. Vertrauen, dass Gott ihn durch das Leiden begleitet und leitet, durch den Tod hindurch zu ewigem Leben. Und das hat Gott.
Dass Jesus „gehorsam“ ist, das wird mit diesem genauen Wortlaut zwar nur hier im Hebräerbrief gesagt. Aber von dieser Umkehr der Verhältnisse, von der auch der Abt spricht, ist auch an anderen Stellen im Neuen Testament die Rede.
Paulus schreibt z.B. im Philipperbrief: Der Messias entäußerte sich selbst und nahm Sklavengestalt an. Also: Der Herr wird Sklave und lernt gehorchen.
Bei Markus haben wir in der Lesung gehört: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene.“
In Johannes 13 lesen wir, wie Jesus sich eine Schürze umbindet und den Jüngern die Füße wäscht.
Es wird deutlich: Jesu Gehorsam ist nicht nur Gehorsam nach oben, seinem Vater gegenüber, sondern auch ein Gehorsam denen gegenüber, die ihm nachfolgen.
Also Gehorsam auf beiden Seiten und untereinander, ohne alle Hierarchien zu stürzen und Autoritäten zu verneinen. Gott bleibt Gott und Jüngerin bleibt Jüngerin, Jünger bleibt Jünger. Jesus war eigentlich auch schon vor seiner Passion gehorsam in dem Sinne, dass er anderen diente.
Liebe Gemeinde, ein bisschen erinnert mich das, was der Abt erzählt hat, an Berichte von Firmenchefs, die unerkannt in die Rolle ihrer Angestellten schlüpfen, um deren Arbeit und Perspektive besser kennenzulernen. Ein Stoff aus dem Filme gemacht worden sind.
Oder an das Buch „Prinz und Bettelknabe“ von Mark Twain, das ich in meiner Jugend mal gelesen habe. Ein Prinz und ein Bettler, die sich zum Verwechseln ähnlichsehen, tauschen ihre Kleider. Der echte Prinz in Bettlerkluft wird aus dem Schloss gejagt, den Bettler in königlichem Gewand halten alle für verrückt, weil er immer wieder sagt, er sei gar kein Prinz. Aber der echte Prinz lernt das Leben seiner Untertanen kennen. Und als er ins Schloss zurückkehrt und den Thron besteigt, wird er zu einem gerechten und milden Herrscher.
Wenn jetzt nun unser „König“ Jesus zu uns normalem Volk kommt und gehorchen lernt, dann heißt das nicht nur: Wir haben einen Gott, der sich klein machen kann, der hinhört auf die Bedürfnisse seiner Menschen. Sondern dann heißt das außerdem: Wir haben einen Gott, der LERNT. Einen Gott, der sich verändert, der sich bewegen lässt.
Ich denke an das Gleichnis von der bittenden Witwe: Die Witwe liegt einem Richter lange in den Ohren, ihr Recht zu verschaffen. Doch der Richter will nicht. Irgendwann lässt er sich dann doch erweichen. (Lukas 18,1-8) Genauso ist Gott, sagt Jesus. Gott lässt mit sich reden.
Liebe Gemeinde, mit Bitten und Flehen wenden sich Menschen seit je her an Gott. Unter Tränen bringen sie ihre Not vor ihn im Gebet. So manche von uns kennt das, die Verzweiflung und Angst und das Beten zu Gott um Hilfe. Und wie viel mehr kennen das schwer Erkrankte in unserer nächsten Umgebung, und Menschen, die in der Ukraine oder in Äthiopien im Krieg leben - und so viele mehr. Ach, möge Gott doch mit sich reden lassen und für Frieden sorgen, wo Menschen es nicht tun!
Jesus musste das alles durchmachen, die Angst und die ganze Gewalt der römischen Soldaten. Weil er treu zu Gott hielt, ist er schließlich auch erhört worden. Er ist vom Tod auferstanden. Und so er ist für alle, die ihm gehorchen, zum Begründer ihrer ewigen Rettung geworden, heißt es im Hebräerbrief. Seine Auferstehung ist unsere Verheißung!
Liebe Gemeinde, für uns ist das ewige Leben noch Zukunftsmusik und Grund zur Hoffnung über alles Leiden und den Tod hinaus. Ich schließe mit einem Satz des Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer aus seinem Buch „Nachfolge“. Dort heißt es sinngemäß: „Gehorsam heißt sich zu entscheiden, den Ruf Jesu in die Nachfolge anzunehmen und sich darauf zu verlassen, dass Gottes Wort ein tragfähiger Boden ist. Es ist ein Boden, auf dem ich stehen und bauen kann. Tragfähiger als alle Sicherheiten dieser Welt.“
Und der Friede Gottes, der so viel höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.
Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.
Liebe Gemeinde, ein Bild ist mir im Gedächtnis. Viele, die in den Tagen nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien die Medien verfolgt haben, werden es kennen. Auf dem Foto ist ein Mann, Mesut Hancer zu sehen in einer orangenen Jacke, wie sie Rettungsdienste tragen. Er hält die Hand seiner 15-jährigen Tochter Irmak fest – sie wurde unter Trümmern begraben. Sie konnte nicht gerettet werden. Sie starb.
Ich habe auch eine 15-jährige Tochter. Wenn ich an das Bild denke, kommt der Schmerz des Vaters mir nahe und zerreißt mir das Herz.
„Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus.“ Damals, als Jesus starb. So erzählen es Matthäus und Lukas. Und nicht nur das: „Von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde.“ „Und die Erde erbebte außerdem, und die Felsen zerbarsten,“ schreibt der Evangelist Matthäus. Er kann das Geschehen auf Golgatha nicht so nüchtern erzählen, wie Johannes es später tut. Das Erschütternde und die tiefe Finsternis, die die Zeugen erlebt haben, muss er zum Ausdruck bringen.
„Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke.“
Jesus stirbt am Kreuz! Und wenig später kniet eine Mutter bei ihrem toten Sohn und hält ihn ein letztes Mal.
In unzähligen Kirchen und Museen habe ich die Beweinung Jesu als Skulptur oder als Gemälde gesehen. Michelangelos Pietà im Petersdom ist das bekannteste Beispiel.
Außerdem viele, wie Maria Jesus als Neugeborenes hält. Dazwischen gibt es keine Bilder: keins, wo sie ihn tröstet, wenn er hingefallen ist, oder wo sie ihm zuhört, wenn er zuhause etwas erzählt. Es gibt - so gut wie - nur diese beiden Szenen, die uns von Mutter und Sohn vor Augen geführt werden: Kurz nach seiner Geburt und kurz nach seinem Tod.
Maria geschieht, was der Alptraum aller Eltern ist: ihr Kind stirbt.
Da zerreißt alles von oben bis unten entzwei, gerät aus den Fugen, ihr Herz zerbirst.
Manchmal rühren mich die Bilder von Maria und Jesus an. Aber es sind keine Fotos, keine Momentaufnahmen. Sie gehorchen ästhetischen Regeln, sind Kunstwerke. Und ob Maria Jesus tatsächlich noch einmal hat in ihren Armen halten dürfen? Wir wissen es nicht, die Bibel erzählt es nicht.
Dennoch brauche ich dieses Bild. Damit Mesut Hancer, und damit ukrainische und russische Eltern, deren Kinder im Krieg in der Ukraine sterben, damit alle Eltern, die ein Kind verlieren, nicht allein sind mit ihrem Schmerz. Das Erdbeben, der Krieg haben ihr Leben zerrissen in ein Davor und ein Danach. Und selbst wenn die Trümmer irgendwann wieder weggeräumt und die Städte wieder aufgebaut sind, selbst wenn der Krieg in der Ukraine eines Tages zu Ende ist, werden die Mütter und Väter ihre Kinder nicht wiederbekommen. Und ihr Schmerz vergeht nicht, nach Jahren nicht und nicht nach Jahrzehnten.
„Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus.“ Und wir ahnen nur, dass es so viele Eltern auf der ganzen Welt gibt, die um ein Kind trauern. Leben, von denen wir nichts wissen. Von denen kein Bild erzählt, das um die Welt geht. Deren Schmerz aber genauso groß ist. Deren Herz zerrissen ist.
Ich denke an sie, immer wenn ich Maria sehe, wie sie ihren toten Sohn im Arm hält.
Liebe Gemeinde, heute ist Karfreitag. Und wir stehen da, hilflos angesichts des Todes. Und wir beten zu dem, der Leben gibt. Der sagt: „Es wird eine Zeit kommen. Da wird es keinen Tod mehr geben, kein Leid, keine Klage und keine Schmerzen. Das, was einmal war, ist dann für immer vorbei.“ (Offb 21) Darum glaube ich.
Aber heute, heute ist Karfreitag. Und ich sehe dieses Bild. Und ich merke, mich tröstet der Blick auf Ostern und diese Verheißung. Mich trägt aber auch das Kreuz. Jesus, der stirbt. Der schlimmstes Leid, Demütigungen, Folter und Tod durchleidet. Maria, der es das Herz zerreißt. Die ihren Sohn sterben sehen muss. Die ihn in den Armen hält. Tiefstes Leid auf der Welt nicht auszublenden. Mit zu erschrecken, zu zittern, zu zweifeln, auszuhalten und zum lebendigen Gott zu beten. Miteinander.
Denn der Friede Gottes ist höher als all unser Verstehen. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus. Amen.
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Tischgemeinde, alles ist bereitet. Die Tische sind mit Vorüberlegung aufgebaut – 12 Stühle an jeder Seite!, es ist liebevoll eingedeckt, das Essen in Vorfreude auf heute Abend geschnitten, gewaschen, auf Schalen verteilt. Sogar der rote Traubensaft ist schon eingeschenkt fürs Abendmahl. Weißwein steht für später in den Krügen bereit. Endlich können wir in St. Martin wieder Tischabendmahl feiern. Und ich schaue mich um und weiß, dass der eine und die andere von Ihnen sich auf heute Abend gefreut hat. Wir erinnern an das letzte Mahl, das Jesus mit seinen Jüngern hielt.
Die Jünger waren voller Vorfreude mit Jesus nach Jerusalem gegangen. Dort wurde er mit Jubel empfangen. Es war vermutlich für die meisten von ihnen ihr erstes Passahfest, das sie nicht mit der Familie feierten. Es war ihr erstes und einziges, dass sie in dieser Konstellation mit Jesus in Jerusalem feierten.
Doch es gab ein Problem: Es hatte sich keiner um die Vorbereitung gekümmert. Niemand hatte daran gedacht, rechtzeitig einen Raum zu mieten. Die Stadt war rappelvoll. Alle feierten.
Das ist so, als wenn Sie an einem Maiwochenende spontan versuchen, in Nienburg in einem Restaurant noch etwas für denselben Tag zu bekommen. Das können Sie vergessen! Kaum eine Chance, da noch was zu kriegen.
Wie das damals genau war, lese ich aus dem Lukasevangelium, dem 22. Kapitel.
7 Es kam nun der Tag der Ungesäuerten Brote, an dem man das Passalamm opfern musste. 8 Und er sandte Petrus und Johannes und sprach: Geht hin und bereitet uns das Passalamm, damit wir’s essen. 9 Sie aber fragten ihn: Wo willst du, dass wir’s bereiten? 10 Er sprach zu ihnen: Siehe, wenn ihr hineinkommt in die Stadt, wird euch ein Mensch begegnen, der trägt einen Wasserkrug; folgt ihm in das Haus, in das er hineingeht, 11 und sagt zu dem Hausherrn: Der Meister lässt dir sagen: Wo ist die Herberge, in der ich das Passalamm essen kann mit meinen Jüngern?
12 Und er wird euch einen großen Saal zeigen, schön ausgelegt; dort bereitet das Mahl. 13 Sie gingen hin und fanden’s, wie er ihnen gesagt hatte, und bereiteten das Passalamm. 14 Und als die Stunde kam, setzte er sich nieder und die Apostel mit ihm.
15 Und Jesus sprach zu ihnen: Mich hat herzlich verlangt, dies Passalamm mit euch zu essen, ehe ich leide. 16 Denn ich sage euch, dass ich es nicht mehr essen werde, bis es erfüllt wird im Reich Gottes. 17 Und er nahm den Kelch, dankte und sprach: Nehmt ihn und teilt ihn unter euch; 18 denn ich sage euch: Ich werde von nun an nicht trinken von dem Gewächs des Weinstocks, bis das Reich Gottes kommt. 19 Und er nahm das Brot, dankte und brach’s und gab’s ihnen und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis. 20 Desgleichen auch den Kelch nach dem Mahl und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird!
Liebe Gemeinde, mir ist dieser eine Satz noch nie aufgefallen oder wieder entfallen: Jesus sagt: „Mich hat herzlich verlangt, dies Passahlamm mit euch zu essen, ehe ich leide.“ Und ich stelle mir vor, wie er sie dabei anschaut. Alle 12, der Reihe nach. Und er sieht ihre Freude über das Fest und ihre Angst vor dem Leiden, das er ankündigt. Und er freut sich auch und hat selbst Angst.
Jesus ist das bewusste Abschied Feiern mit seinen Jüngern wichtig. Nicht nur, damit ihnen die Situation und die Bedeutung von allem, was danach kommt, klar wird. Nicht nur, um ihnen nochmal das eine oder andere in Ruhe mit auf den Weg geben zu können. Nein, er hat „sich danach gesehnt“, es war ihm ein emotionales Anliegen. Das hat er gebraucht. Für sich.
Liebe Gemeinde, was war ihr schönster Abschied? Und vielleicht kommen wir nachher bei Tisch darüber ins Gespräch.
Ich weiß, Abschied ist nicht immer schön. Aber vielleicht ist es dann um so wichtiger, ihn gebührend und würdig zu begehen.
Es kann einem nämlich richtig fehlen, wenn man keinen Abschied nimmt. Ich erinnere mich an mein erstes Examen: das Ende meines Studiums, der Beginn der Berufstätigkeit, des Vikariats. Das war eine große Wende, verbunden mit Abschiedsschmerz und Vorfreude, Unsicherheit und Tatendrang. Aber einen richtigen Abschied gab es nicht. In dieser Zeit des Übergangs von einer Lebensphase zur anderen hätte mir ein Ritual, ein Segen gut getan, der hat mir gefehlt. (Es war schön zu sehen, Patrick, dass es so etwas zu Beginn Deines Vikariats im Kloster Loccum gab.)
Und ich denke an neulich, eine Trauerfeier, nur am Grab. Was ich nur selten und in Ausnahmefällen mache. Eine Besucherin sieht die Familie am Grab und die verschlossene Kapelle und macht enttäuscht und wütend kehrt. Als sie mich im Talar sieht kommen, kommt sie doch nochmal mit zurück. Und wir feiern würdig Abschied mit vielem, was dazugehört: Der Bestatter hat die Urne aufgebahrt, mit Blumen geschmückt, wir haben gebetet und Stille gehalten, es gab einen Rückblick und wir haben aus dem Leben erzählt, wir haben nach vorne geschaut und Hoffnung geschöpft, es gab Ritus und Segen. Und es war wichtig.
Ich finde, Abschiede wie Neuanfänge sollte man nicht einfach geschehen lassen, man sollte sie feiern. Auch wenn es traurig ist.
Weil es so wichtige Momente sind. Weil sich etwas verändert. Weil es gut ist, einmal die Zeit anzuhalten und innezuhalten, in sich hineinzuschauen und zu horchen. Den Abschiedsschmerz zuzulassen, und die Freude über Gewesenes dankbar zu genießen.
Das Verrückte ist ja, dass beim Abschied oft beides da ist. Dieser dumpfe Schmerz auf der Brust, der einen nur ganz flach atmen lässt. Und zugleich die Dankbarkeit und Freude über das Gute, das war, Freude, die das Herz schneller schlagen lässt.
Ob Jesus das auch so ging, als er sich umschaut und sagte: Ich habe mich so auf das Essen heute mit euch gefreut? Bestimmt hat er sich erinnert, was er mit jedem einzelnen der Jünger erlebt hat, was jeder ihm bedeutet hat. Und er sah ihre Freude und ihre Angst.
Wissen Sie, ich fand es ja lange komisch, wie ausführlich Lukas erzählt, was es an Vorbereitungen brauchte. Wie Petrus und Johannes auf wundersame Weise den Raum gefunden haben. Und dass es ein großer Saal war, der schön ausgelegt war. Und dann sagt Jesus noch: „Ich habe mich so sehr nach diesem Festessen mit euch gesehnt.“ Ich habe so manches Mal achselzuckend darüber hinweggelesen.
Aber in diesem Jahr lese ich das ganz anders. Ich habe gehört, wie sehr sich manche auf heute Abend gefreut haben und wie wichtig ihnen das Tischabendmahl ist. Es wurde liebevoll und sorgfältig durch viele vorbereitet. Und es ist etwas Besonderes, wir machen das ja nicht alle Tage. Ja, wir haben es 2020 und 2021 sogar gar nicht machen können.
Wir haben uns erinnern lassen, wie das damals war, als Jesus Abschied feierte. Für Jesus und die Jünger war es ein schöner, aber auch ein trauriger, angstvoller Abend. Auch wenn sie, wie derzeit Juden auf der ganzen Welt, Passah – das Fest der Befreiung - gefeiert haben.
Das, liebe Gemeinde, ist der Unterschied der Jünger zu uns heute: Wir feiern zwar kein Passah, wir feiern Jesu Abschiedsmahl, aber wir müssen nicht traurig bleiben. Denn wir kommen von Ostern her. Wir feiern Abendmahl als Ostergemeinde. Wir verlieren nicht unseren Freund oder unseren Herrn. Wir wissen, er kommt. Ostern wartet auf uns.
Nun feiern wir jedes Jahr Gründonnerstag. Es ist wie Passah ein ritualisiertes Feste. Und trotzdem wichtig.
Ich glaube nämlich, wir üben darin Abschied zu nehmen. Wir halten heute Abend inne. Unweigerlich fallen uns Abschiede ein, die die gerade geschehen sind oder schon länger her oder die erst bevorstehen. Vielleicht sprechen wir gleich darüber. Und diese Abschiede machen uns das Herz schwer. Immer noch oder schon jetzt.
Aber es tut gut, sich zu erinnern. Beim Essen. Am schön gedeckten Tisch. Mit Musik und Liedern. In Gemeinschaft. Innezuhalten, sich umzuschauen: wer ist da mit mir, in der Gemeinde unterwegs? Und Christus in unserer Mitte. Und er sieht auch unsere Freude über das Fest und unsere Trauer und Angst.
Und der Friede Gottes, der so viel höher ist als all unser Verstehen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Konfirmationspredigt vom 30.4.2023
„Liebe Kinder, heute sehen wir uns zum letzten Mal!“ (Zitat eines Hamburger Pastors von 1836)
Ehe Sie jetzt etwas Falsches denken, liebe Festgemeinde:
Ich gehe ganz hoffnungsfroh davon aus, dass wir die Jugendlichen durchaus noch öfter sehen werden. Zum Beispiel beim Nachtreffen mit Eis ohne Ende oder beim Gemeindefest oder bei den Teamertreffen.
Die Betonung liegt ganz woanders: „Liebe KINDER, heute sehen wir uns zum letzten Mal“ – wir sehen Euch zum letzten Mal als religionsunmündige KINDER. Verlassen werdet Ihr dieses Gebäude nachher als mündige Gemeindeglieder mit Rechten: z.B. könnt Ihr Paten werden und den Kirchenvorstand nächstes Jahr mitwählen.
In Glaubensdingen seid Ihr den Kinderschuhen entwachsen. - Naja, und wenn ich auf Eure Füße schaue, dann wohl nicht nur in Glaubensdingen...
Wenn ich mir die Fotos anschaue, die ich vor einem Jahr von Euch gemacht habe, dann steht mir deutlich vor Augen, wie sehr Ihr Euch in den 12 Monaten verändert habt.
Bestimmt geht es Ihnen als Eltern, als Patinnen, Paten und Verwandte ähnlich und Sie fragen sich vielleicht: „Wo ist das Kind geblieben, dem ich gerade noch vorgelesen habe?“ „Habe ich mit ihr nicht neulich erst Ball gespielt?“ Gerade heute ist es augenfällig, wie erwachsen Ihr plötzlich seid.
Abschied vom Kindsein. Aufbruch in die Erwachsenenwelt. Das hat viel mit Konfirmation zu tun. Davon erzählt auch eine biblische Geschichte. Eine, die es in sich hat.
Jesus erzählt sie. Es ist die Geschichte vom Vater, der zwei Söhne hat. Und sie könnte ganz genauso von der Mutter handeln. Und statt Söhne könnten es ebenso Töchter sein. Aber im 15. Kapitel des Lukasevangeliums steht sie mit einem Vater und zwei Söhnen.
Es ist der Jüngere von beiden, der eines Tages sagt: „Vater, zahle mir mein Erbe vorzeitig aus. Ich verlasse Euch.“ Und der Vater gibt dem Knaben sein Erbe. Ob erst nach Diskussionen und mit Bauchschmerzen und durchsorgten Nächten – das wissen wir nicht. Vielleicht war nicht genug Platz das damals auf dem Papyrus aufzuschreiben. Aber er tat es. Wahrscheinlich kannte der Vater damals schon den weisen Spruch von den Wurzeln und den Flügeln, Sie wissen schon… Und er wusste: Wenn man Kindern Vertrauen schenkt und sie ziehen lässt, dann hat man eine gute Chance, sie wiederzusehen.
Der Junge macht sein Erbe zu Geld und zieht ins Ausland. Das Nest wird leerer.
Nester oder vielmehr solche Nistkästen habt Ihr mit dem NABU zusammen in Eurer letzten Stunde gebaut. Mit Euch zusammen wollen wir sie noch auf unseren Friedhöfen aufhängen, damit sie Vögeln ein Zuhause bieten. Das wird eine schöne Erinnerung für die Gemeinden an Euren Konfijahrgang sein.
Der Ausgeflogene genießt das Leben in vollen Zügen – jedenfalls bis das Konto leer ist. Und vielleicht wäre das nicht so schlimm gewesen, er hätte dann arbeiten gehen können. Aber just zu der Zeit kommt eine Hungersnot über das ganze Land und macht alles zunichte. So wie zu anderen Zeiten Pandemien. Oder Kriege.
Und plötzlich ist alles anders. Was sicher war, ist plötzlich unsicher. Menschen verlieren ihre Jobs, ihr Erspartes. Lebenspläne werden über den Haufen geworfen. Und in unserer Geschichte heißt es nun: „Auch der Sohn beginnt zu hungern.“ Und er ist obdachlos.
Liebe Konfis, ich muss an den Besuch des Asphalt-Verkäufers denken, letzten Herbst. Erinnert Ihr Euch? Gebannt habt ihr zugehört, als Er aus seinem Leben als ehemals Obdachloser berichtet hat.
Wo wir als Christenmenschen hier in unserer Stadt anderen helfen, haben wir uns angesehen. Denn Diakonie ist ein wichtiger Teil unseres Glaubens.
Liebe Festgemeinde, als ich in meiner Bibel nun in unserer Geschichte weiterlesen wollte, stand auf der nächsten Seite nur ein einziges Wort: VERGEBUNG.
Als eine Kleingruppe von Euch den Predigtpart in Eurem Konfi-Gottesdienst übernommen hat, habt Ihr entschieden, über die Gnade zu predigen. Ich fragte Euch: Was versteht Ihr denn unter Gnade? Und Ihr sagtet: „Gnade - ist Vergebung.“
Dass man einander vergibt, ist Euch wichtig. Und Ihr habt das gelebt. Ich denke an zwei von Euch, die es schwer miteinander hatten, und die dennoch aufeinanderzu gehen konnten und sich versöhnt haben. Also, wenn Eure Gruppe nicht religionsmündig ist, dann weiß ich es auch nicht…
Aber zurück zu unserem nun mittellosen Jüngling aus der Geschichte. Er findet nur einen ziemlich üblen Job: Schweinehüten. Verdienst weit unter Mindestlohn. Es reicht nicht einmal zum Sattessen.
„Da geht der Sohn in sich“, heißt es in meiner Bibel. Und wieder muss ich an Euch denken.
Denn Ihr seid auch ins Innere gegangen, in Euer Inneres und in das einer Spirale an Bibelversen. Die haben wir auf der Freizeit in Hanstedt auf dem Boden ausgelegt. Spruch für Spruch seid Ihr mit Teelichtern den Weg nach innen gelaufen, wart ganz still und konzentriert dabei. Denn Ihr wusstet: Hier entscheide ich, was mich mein weiteres Leben lang begleitet. Was Licht auf dunklem Weg oder ein Seil beim Klettern sein kann. Und jede hat ihren, jeder hat seinen Vers gefunden, den wir nachher auch verlesen werden.
Der Sohn geht also in sich und denkt: „Alle Arbeiter meines Vater haben genug zu essen. Ich will zu meinem Vater zurückgehen und zu ihm sagen: Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden. Aber lass mich bei Dir arbeiten, damit ich nicht verhungere.“ So macht er sich auf den Weg.
Als er zuhause ankommt, sieht sein Vater ihn schon von weitem, läuft ihm entgegen, fällt ihm um den Hals und küsst ihn, schreibt Lukas. Und natürlich tut es die Mutter ebenso. Und ausnahmsweise ist es dem Sprössling nicht peinlich, dass seine Eltern ihn auf offener Straße vor den Nachbarn umarmen. Wobei, gut, das steht jetzt nicht in der Bibel.
Aber dort steht, dass die Eltern schöne Kleidung holen und Schmuck für den verloren Geglaubten. Und sie lassen ein großes Festmahl auftischen.
Und bei der Feier schauen die Eltern vermutlich ihr Kind an, das nun kein Kind mehr ist, und staunen über den Erwachsengewordenen. Und vermutlich wird es hier in Nienburg heute Nachmittag in ganz vielen Häusern und Restaurants ähnliche Szenen geben: des Feierns, des Staunens und ein Stück weit des Abschieds von der Kindheit.
Und eigentlich wäre das jetzt ein schönes Ende, auch für eine Predigt.
Aber die Geschichte, die Jesus hier erzählt, geht noch ein bisschen weiter und zeigt: Ohne Konflikt geht es nicht ab, wenn Kinder groß und selbstständig werden. Und überhaupt, da gibt es doch auch noch die Geschwister. Wer hat denkt an die?
Der Evangelist Lukas hat sie im Blick und erzählt vom älteren Bruder.
Der ist neidisch und hat keine Lust mitzufeiern. So ein Trara haben seine Eltern um ihn noch nie gemacht!
Und wer von Ihnen ebenfalls mehrere Kinder hat, der wird diesen Geschwisterneid kennen. „Warum darf der länger aufbleiben als ich?“ „Ich muss immer helfen, und sie nicht. Das ist unfair!“ (Das vermutlich meist ausgesprochene Wort von Kindern zwischen 10 und 14.)
Doch hier geht es um mehr. Denn auch für Geschwister ist es nicht leicht, wenn der Bruder oder die Schwester plötzlich flügge wird. Und auch wenn man heute nicht mehr direkt nach der Konfirmation mit der Lehre beginnt, so steigt doch sichtbar das Erwachsen- und Unabhängigwerden am Horizont auf. Konstellationen verändern sich. „Liebe Kinder, heute sehen wir uns zum letzten Mal“. Auch wenn sich dieses Heute noch etwas hinzieht.
Und, liebe Festgemeinde, was für die familiäre Seite der Geschichte gilt, trifft auch für die kirchliche zu: Ihr Konfis habt gelernt, wie wir hier in St. Martin und in St. Michael unseren Glauben leben. Ihr habt Praktika in den Gemeinden gemacht.
Doch in Zukunft geht ihr im Blick auf den Glauben Eure eigenen Wege. Die Rollen und Konstellationen ändern sich auch hier. Einige werden Teamer sein. Andere werden hier und da bei Freizeiten und Aktionen dabei sein. Manche werden auch eine Kirchenpause machen. All das ist ab jetzt Eure Entscheidung.
Aber gerne bleibt St. Martin ein zweites Zuhause für Euch, das auf Euch wartet. Wo Glaubensgeschwister sich treffen. Aber das Wichtigste ist, dass Ihr wisst: Ihr könnt jeder Zeit zu Gott kommen. Er empfängt Euch mit offenen Armen wie Eltern es tun und mehr noch. Egal in welcher Situation Ihr seid.
Ihr bleibt Gotteskinder. Egal wie erwachsen Ihr werdet. Immer.
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott,
unserm Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde,
haben Sie gestern auch die Krönung des englischen Königs Charles III. im Fernsehen live verfolgt? Eine sehr besondere, seltene Zeremonie, die ja aus drei Akten bestand: der Salbung, des Eides und der Krönung selbst.
Doch dem Großereignis waren Proteste gegen die Monarchie vorausgegangen. „Not my king“ war der Slogan der Gegner. Nicht mein König.
„Salbung zum König“, ist die Überschrift des biblischen Kapitels, aus dem der für heute vorgeschriebene Text für die Predigt steht. David wird im Voraus vom Propheten Samuel zum König gesalbt, nicht gekrönt. Denn es gibt noch einen aktuellen König: Saul. König Saul allerdings hat ein Problem.
Ich lese aus dem Ersten Testament nach der Guten Nachricht Bibel, aus dem ersten Samuelbuch, Kapitel 16, was dort gleich nach der Salbung Davids geschah:
„Gott hatte Saul einen bösen Geist geschickt, der ihn oft quälte. Da sagten seine Leute zu Saul: Du weißt, dass ein böser Geist dich immer wieder befällt. Sollen wir uns nicht nach einem Mann umsehen, der Harfe spielen kann?“ „Dann kannst du dir etwas vorspielen lassen,
das wird dich aufmuntern.“
Saul stimmte dem zu und sie empfahlen ihm David:
„Er versteht zur rechten Zeit das rechte Wort zu sagen - und sieht sehr gut aus. Gott steht ihm bei.“ „Da sandte Saul Boten“ und ließ David an den Hof holen. So trat David in Sauls Dienst. Und der König gewann ihn lieb.“
„Immer wenn der böse Geist über Saul kam, griff David zur Harfe und begann darauf zu spielen. Dann wurde es Saul leichter ums Herz,
er fühlte sich wieder wohler und der böse Geist verließ ihn.“
Liebe Gemeinde, ich erinnere mich an meine ersten Versuche, Gitarre spielen zu lernen während meines Studiums an der Kirchlichen Hochschule. Ich war nicht sehr erfolgreich darin, da half auch häufiges Üben hinter verschlossener Tür nichts. Not my Instrument.
Aber einmal war es mir doch gewissermaßen zu etwas nütze. Ich erinnere mich an meine Kommilitonen Matthias. Er klopfte eines Tages an meine Zimmertür im Wohnheim. Ich übte gerade meine Griffe und sang dazu die am einfachsten zu begleitenden geistlichen Lieder, die ich finden konnte. Wir waren in derselben Lerngruppe. Doch so verheult und aufgelöst, wie Matthias war, sah man, dass er nicht zum Lernen vorbeikam. Er hatte Liebeskummer. Matthias war verlobt, und die Ankündigung seiner Liebsten, mit ihm Schluss zu machen, zog ihm den Boden unter den Füßen weg.
Er setze sich zu mir und redete sich - von Schniefen unterbrochen - seinen Kummer von der Seele. Und ich weiß noch, dass ich mich zwar über sein Vertrauen freute. Aber auch, dass ich recht hilflos war und verzweifelt nach tröstlichen Worten suchte – und keine fand. Was wäre hier das rechte Wort gewesen?
David wäre vermutlich etwas Hilfreiches eingefallen. Schließlich sagte man ihm ja nach, er würde zur rechten Zeit die passenden Sätze finden. Matthias jedenfalls war irgendwann fertig mit Erzählen und schwieg. Wir schwiegen eine ganze Weile gemeinsam.
Dann fragte er mich, was ich da spielte. Ich zeigte ihm das Lied. Er sagte, das kenne er nicht, und fragte, wie das ginge. Ich sang es ihm vor, begleitet von den drei Akkorden, die ich konnte. Er fiel schnell ein, und wir sangen alle Strophen, und dann das Lied auf der Seite daneben, weil er sagte, DAS würde er kennen und fände er auch gut. Und dann noch etliche weitere. Und sein Schniefen zwischendurch wurde weniger und die Stimme fester und heller. Und er richtete sich äußerlich wie innerlich immer mehr auf.
Das weiß ich noch, weil ich mich über die Gitarre und die Noten beugte und nach einigen Liedern erst aufsah und die Veränderung an Matthias so richtig wahrnahm. Damals wurde mir einmal mehr bewusst, wie heilsam Singen ist.
Ja, manchmal liebe Gemeinde, ist Singen sogar heilend. Die Tage erzählte mir jemand, dass ihm das Singen im Chor sogar geholfen habe, nicht mehr zu stottern.
Studien belegen den Effekt, den Singen auf die Seele hat. Auf der Website der AOK Krankenkasse, können Sie es nachlesen: Singen steigert die Immunabwehr, stärkt das Herz-Kreislauf-System, intensiviert die Atmung, wirkt entspannend, löst Ängste und baut Stress ab. Wenn das nicht schon allein Gründe genug sind, in einem Chor zu singen, weiß ich es auch nicht! Und von der Gemeinschaft der Singenden war dabei noch gar nicht die Rede.
Ich bin sicher, das meiste davon trifft auch auf Musizieren und sogar auf das bloße Hören von Musik zu: die entspannende und angstlösende Wirkung und der Stressabbau gewiss.
König Saul, der vermutlich an Depressionen litt, könnte es bestätigen: Wir erfahren nicht, ob und wie David Saul gegenüber zur rechten Zeit das rechte Wort zu reden wusste. Aber Davids Harfenspiel half dem König, wann immer ihn sein böser Geist überkam. Man geht davon aus, dass mit dem bösen Geist Depressionen gemeint waren, unter denen Saul litt.
Nun ist David beileibe nicht der einzige – spätere - König in der Geschichte, der ein Musikinstrument spielte. Aber kein anderer König wurde so oft auf Bildern, auf Orgelprospekten und als Statue mit seinem Instrument abgebildet wie er. Auch wenn es vermutlich eher eine Leier als eine Harfe war. Auch direkt über der Kanzel meiner ersten Gemeinde ist David mit seinem Instrument zu sehen, rechts und links flankiert von Trompetenengeln. Die Harfe oder Leier ist sein Markenzeichen.
Und das Markenzeichen von König Charles III., was macht ihn eigentlich aus? Er ist für sein Faible für den Umweltschutz und eine gesunde Ernährung bekannt. Um das zu erfahren, musste ich ehrlich gesagt einmal die Gala lesen… Dort erfuhr ich außerdem: Er gibt den Eichhörnchen auf seinem Landsitz Highgrove Namen und erkennt sie. Das finde ich nicht zu verachten.
Aber beeindruckender finde ich dann doch Davids Eigenschaft, wie es in 1. Sam 16,18 heißt: dass er „versteht“ „zur rechten Zeit das rechte Wort zu sagen“.
Das wünsche ich nicht nur dem frisch gekrönten König Charles III. in seinem verantwortungsvollen Job. Darum bete ich auch für Dich, liebe Annette, bei Deiner Aufgabe als Schulseelsorgerin. Dass Du außerdem jede und jeden im Blick behältst, erkennst und beim Namen nennen kannst.
Und das erbitte ich für jede von uns von Gott: Wenn wir Menschen begegnen, die verzweifelt sind, denen schlimme Ereignisse den Boden unter den Füßen wegzuziehen drohen, - dass wir die richtigen Worte finden: Worte des Trostes und des Glaubens. Worte, die von dem König über allen Königen zeugen. Worte über den, der Himmel und Erde gemacht hat. Worte über den Gott, der uns einen Geist der Kraft und der Liebe der Besonnenheit gegeben hat. Worte, die auch denen etwas sagen und helfen können, die eigentlich von sich sagen: „Jesus? Not my king.“
Ach, und David mit seiner Harfe oder Leier zeigt es uns: Manchmal müssen es gar keine Worte sein. Da hilft das gemeinsame Schweigen, einfach da zu sein, für- und miteinander zu singen und zu musizieren, um Trost zu finden. Selbst mit nur drei Akkorden.
Und der Friede Gottes, der so viel höher ist als all unsre Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
24. September 2019. Greta Thunberg hält ihre berühmt gewordene Wutrede vor den Vereinten Nationen. „How dare you“ – „wie könnt ihr es wagen“, ruft sie. "Seit mehr als 30 Jahren ist die Wissenschaft glasklar und ihr schaut weiterhin weg. In weniger als achteinhalb Jahren ist unser verbleibendes CO2-Budget aufgebracht. Ihr sagt, dass ihr die Dringlichkeit versteht, aber ihr handelt immer noch nicht", wirft die junge Schwedin den Regierungsvertretern vor.
Was wäre gewesen, wenn die versammelten Politiker damals ihr und unser aller Versagen eingestanden hätten. Wenn sie sofort einschneidende Maßnahmen in Angriff genommen und Gesetze erlassen hätten, die jede Bürgerin zum radikalen Schutz des Klimas und zum Schutz der Artenvielfalt verpflichtet hätten?
Aber so war es nicht. Warnungen wurden in den Wind geschlagen. Gehofft, dass es doch nicht so schlimm kommt. Und dann tat man - erst einmal nichts. Und viel ist nach wie vor nicht geschehen, jedenfalls nicht, wenn man die Zahlen und die Folgen der Erderwärmung anschaut.
Von missachteten Warnungen können auch so manche biblischen Propheten - von Mose bis Johannes dem Täufer - ein Lied singen. Doch ein einziges Mal kam alles anders.
Der Prophet Jona hat zunächst überhaupt keine Lust und sieht keinen Sinn darin, die ihm von Gott gestellte Aufgabe auszuführen. Er soll den Spaßverderber und Unheilspropheten spielen. Er erhält den Auftrag, die Menschen der riesigen assyrischen Stadt Ninive aufzufordern, sich doch bitte von jetzt auf gleich nicht mehr so zerstörerisch und gewalttätig zu verhalten. Und das soll er als Ausländer ihnen sagen, als Anhänger einer anderen Religion. Ach ja, und ihnen damit drohen, dass sie, wenn sie so weiterleben wie bisher, sein Gott kurzen Prozess mit ihnen machen wird. Da braucht man kein ausgesprochener Pessimist zu sein, um sich auszumalen, dass diese Mission nur schief gehen kann...
Also sagt Jona: „Nein, mach ich nicht.“ Gott: „Doch, du gehst.“ Darauf flieht Jona, nimmt ein Schiff in die entgegengesetzte Richtung. Es kommt ein Sturm auf. Um den Rest der Besatzung zu retten, lässt Jona sich sich den Fischen zum Fraß vorwerfen. Das hilft, der Sturm legt sich. Klar, dahinter steckt Gott. Und weil Gott unglaublich hartnäckig sein kann, schickt er einen sehr großen Fisch, der Jona im Ganzen verschluckt, ohne zu kauen. Und Jona überlebt. Nach drei Tagen an Land gespuckt, sagt Jona: „Na gut“ und geht jetzt doch nach Ninive. So die Kurzfassung des bekannteren Teils der Jonageschichte. Weniger bekannt ist, was dann kommt:
Er verkündet den Einwohnern, dass sie noch 40 Tage zu leben haben, ehe Gott die Stadt zerstört. Sie hätten da aber noch eine winzige Chance…
Liebe Gemeinde, das kann ja keinen Erfolg haben.
In unseren Breiten heutzutage glauben nur noch 38% der Menschen an Gott. Das ergab der Religionsmonitor 2023, eine repräsentative Umfrage, deren Ergebnis im Dezember 2022 veröffentlicht wurde. Der Wissenschaft vertrauen 62% der deutschen Bevölkerung. So das Wissenschaftsbarometer, dessen Resultat im selben Monat vorgestellt wurde. Preisfrage: Welche Chance hätte Jona mit seiner Bußpredigt und der Drohung der Vernichtung durch Gott in einer Stadt wie sagen wir Salzgitter oder Heidelberg, beide an die 120.000 Einwohner, heutzutage gehabt?
Gut, Ninive war damals. Das ist kaum zu vergleichen. Wissenschaft hatte nicht denselben Stellenwert. Aber es lag im assyrischen Reich. Und die Assyrer glaubten nicht an Jonas Gott, sie waren keine Juden. Seine Chancen waren noch sehr viel geringer als sie heute wären.
Doch das Wunder geschieht. Die Einwohner glauben ihm. Zu erklären ist das nicht. Sie kleiden sich in Sack und Asche. Selbst der König.
Liebe Gemeinde, Jona hätte an dem Punkt als größter Prophet aller Zeiten in seine Heimatstadt Gat-Hepher nördlich von Nazareth heimkehren können. Welch eine Wahnsinnsgeschichte! Er hätte seine Memoiren schreiben können. Welch ein Erfolg! Er wäre der Held gewesen. Er hätte Vortragsreisen organisieren, Propheten-Workshops abhalten und an seinem Haus eine Hinweistafel für Touristen anbringen lassen können: "Hier wohnt der berühmte Prophet Jona, der eine Großstadt vor dem Untergang rettete." Er hätte sich freuen können!
Aber was macht er stattdessen? Das erzählt uns der Predigttext, den die Perikopenordnung für heute vorsieht. Ich lese den letzten Vers des 3. Kapitels und die elf Verse des 4. Kapitel des Jonabuches aus dem Ersten Testament.
10 Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat’s nicht.
1 Das aber verdross Jona sehr, und er ward zornig 2 und betete zum HERRN und sprach: Ach, HERR, das ist’s ja, was ich dachte, als ich noch in meinem Lande war. Deshalb wollte ich ja nach Tarsis fliehen; denn ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen. 3 So nimm nun, HERR, meine Seele von mir; denn ich möchte lieber tot sein als leben. 4 Aber der HERR sprach: Meinst du, dass du mit Recht zürnst? 5 Und Jona ging zur Stadt hinaus und ließ sich östlich der Stadt nieder und machte sich dort eine Hütte; darunter setzte er sich in den Schatten, bis er sähe, was der Stadt widerfahren würde. 6 Gott der HERR aber ließ einen Rizinus wachsen; der wuchs über Jona, dass er Schatten gab seinem Haupt und ihn errettete von seinem Übel. Und Jona freute sich sehr über den Rizinus. 7 Aber am Morgen, als die Morgenröte anbrach, ließ Gott einen Wurm kommen; der stach den Rizinus,
8 Als aber die Sonne aufgegangen war, ließ Gott einen heißen Ostwind kommen, und die Sonne stach Jona auf den Kopf, dass er matt wurde. Da wünschte er sich den Tod und sprach: Ich möchte lieber tot sein als leben. 9 Da sprach Gott zu Jona: Meinst du, dass du mit Recht zürnst um des Rizinus willen? Und er sprach: Mit Recht zürne ich bis an den Tod. 10 Und der HERR sprach: Dich jammert der Rizinus, um den du dich nicht gemüht hast, hast ihn auch nicht aufgezogen, der in einer Nacht ward und in einer Nacht verdarb, 11 und mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere?
Liebe Gemeinde, Jona beschwert sich bitterlich. Kann doch nicht wahr sein, dass die aus Ninive jetzt nicht ihre gerechte Strafe bekommen. Jona kann nicht glauben, dass Gott sich von dem bisschen Sack und Asche der Niniveer blenden lässt. Das meinen die doch nicht ernst.
Und er sucht sich einen guten Platz etwas außerhalb der Stadt, wo er alles gut im Blick hat. Ich sehe ihn da in seiner improvisierten Hütte quasi wie im Kino sitzen, die Popcorntüte auf dem Schoß und super: Schatten wächst ihm auch noch durch die schnellwachsende Rizinusstaude. Das Spektakel kann losgehen.
Jona vertraut auf einen gerechten Gott. Der diejenigen straft, die anderen Gewalt antun, die rücksichtslos sind, boshaft. Bloß, das mit der Gerechtigkeit Gottes, das ist so eine Sache…
„Ich wusste es doch,“ sagt Jona, und es ist als Vorwurf gemeint: „dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist“. Das Zitat begegnet übrigens öfter in den Beschreibungen Gottes im Ersten Testament. Wenn auch in der Regel nicht als Anklage. Und zum Gleichnis des liebenden Vaters, von dem wir in der Lesung gehört haben, passt es ja auch. Gnädig und barmherzig ist Gott, und das ist eben was anderes als gerecht. Aber gerecht ist Gott ja auch.
Beide Geschichten, Lukas 15 und Jona 4 handeln genau davon, von Gottes Gerechtigkeit und Gnade und wie schwer die beiden zu verbinden sind und wie eindeutig sie menschliche Logiken sprengen.
Auch im rabbinischen Judentum wird dieses Problem reflektiert. Gott wird beschrieben als der, dem zwei Eigenschaften zukommen: die Eigenschaft des Rechts, middat ha-din, und die Eigenschaft des Erbarmens, middat ha-rachamim. Und es gibt ihn nicht nur mit der einen Eigenschaft, sondern immer mit beiden. Denn die Welt hätte keinen Bestand, wenn Gott nur gerecht oder wenn er nur gnädig wäre.
Wäre er nur immer gnädig: Wieso sollte ich ihn fürchten, wieso mich bemühen, Gutes zu tun und mich fair zu verhalten?
Wäre er nur gerecht: Dann sähen auch wir selbst schnell alt aus. Seine Barmherzigkeit kommt jeder von uns zugute. Weil keine es schafft, Gottes Willen stets zu erfüllen. Oder wie Paulus es sagt: „Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer.“ Wir sind aber gerecht allein aus Gottes Gnade. Und als Christen „reden wir von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus“. Auch Paulus.
Und übrigens lässt nicht nur Gott „Gnade vor Recht“ walten. Auch unser Rechtssystem setzt die „gerechte Strafe“ schon mal aus oder begnadigt. Wenn auch weniger aus Barmherzigkeit...
Liebe Gemeinde, ich mag diesen Teil der Jonageschichte, Gott entlarvt Jonas Selbstgerechtigkeit: Dass der schattenspendende Strauch eingeht, das findet Jona unfair. Mit den 120.000 Menschen in Ninive dagegen hat er kein Mitleid. Ihnen weiß er sich moralisch so überlegen.
Und zugleich beunruhigt mich diese Erzählung. Sie hält ja auch mir und uns Spiegel vor: Wir beklagen den Verlust oder auch nur drohenden Verlustes so manchen Privilegs.
Ein Beispiel: Der Landkreis Nienburg hat eine Allgemeinverfügung zur Einschränkung der Bewässerung von privaten und öffentlichen Grünflächen erlassen. Aufgrund des anhaltend niedrigen Grundwasserspiegels darf ab einer Temperatur von 24 Grad zwischen 11 und 19 Uhr kein Sprinkler angeschaltet werden.
Sich darüber aufzuregen und sich womöglich zugleich ungerührt über die Flüchtlinge zu beschweren, die vor Dürre und zerstörerischen Überschwemmungen nach Europa fliehen - das ist schon ziemlich jona-esk!
Und ich stelle mir vor, Gott schaut uns an und schüttelt den Kopf und dann fragt er: „Ernsthaft?“ Oder mit den Worten, die in Jona 4 gleich zweimal vorkommen:
„Und Gott sprach: Meinst du, dass du mit Recht zürnst?“
Lalalaaaala lalalalalaa – ja, danke auch für den Ohrwurm! Jetzt werde ich dieses Lied nicht mehr los!
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Schulgemeinde,
ein Abschieds-Lied habt Ihr im Chor gesungen! Oder eher: ein Wiedersehens-Lied:
"It’s been a long day without you my friend. And I’ll tell you all about it when I see you again. We’ve come a long way from where we began. Oh I’ll tell you all about it when I see you again."
Das Lied ist so gut, ich war kurz versucht, meine Predigt zu rappen. – Aber keine Sorge, ich verschone Euch. Rappen gehört nicht zu meinen Stärken.
Ich musste bei dem Lied und angesichts Eures Abschiedes, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, an mein erstes Klassentreffen nach dem Abitur denken. Es fand nach 20 Jahren statt. Und ich hatte keinen meiner ehemaligen Mitschüler in der Zwischenzeit wiedergesehen.
Und wisst Ihr, was irre war? Die Klassenkameradinnen hatten sich zwar total verändert. - Naja, einige auch irgendwie überhaupt nicht! Die sahen noch so aus wie früher und die verhielten sich auch noch so! - Aber sie lebten jetzt alle ein sehr anderes Leben, z.T. weit weg. Waren im Beruf, hatten Familie, trugen Verantwortung.
Aber die Zuneigung, die freundschaftlichen Gefühle, dieses Auf-derselben-Wellenlänge-Sein – das war mit denen sofort wieder da, mit denen man sich damals auch super verstanden hat. Ich konnte auch nach zwei Jahrzehnten mit alten Freundinnen in Erinnerungen abtauchen und über die damaligen Lehrer ablästern – und für andere weiter schwärmen. Und auch andere Gefühle von damals waren wieder sofort da: Das Misstrauen dem einen gegenüber, das nicht so richtig ernst nehmen können dem anderen, - die Distanz und die Nähe, das Vertrauen und die Abneigung. Alles wie früher! Sofort wieder da, als hätte es die Zeit dazwischen nicht gegeben. Manches bleibt, auch wenn die Gesichter faltiger werden.
Aber vielleicht dauert es bei Euch nicht so lange, bis Ihr Euch wiederseht. Vielleicht kommt Ihr mal zum Altstadtfest nach Nienburg zurück, für die einen noch Semesterferien, für andere zumindest Wochenende. Wie schön, wenn man dann an den Stand von ASS und St. Martin hier vor der Kirche kommt und dort erinnert sich jemand an dich: Remember me, when I am gone.
Vermutlich wisst Ihr das: Der Soundtrack „See you again“ zum Film „Furious 7“ ist auch eine Hommage gewesen für einen, der viel zu früh verstorben ist, für Paul Walker. Und es steckt in den Liedzeilen die Hoffnung, ihn einst wiederzusehen. Am anderen Ende. Jenseits von allem, was war und was ist.
Es gibt am Ende des Films eine Szene am Meer, in der Paul Walker glücklich auf die am Strand spielende Familie zurückschaut und sich dann umdreht und geht. Da geht es auch ganz viel um die Bedeutung von Zuhause und um Abschied.
Und ich muss an unseren Psalm denken, Psalm 139. Wir haben Verse daraus in der Lesung vorhin gehört: „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand, Gott, mich führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein –, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag.“ Also: Nichts kann mich schrecken, denn Gott hält mich.
Mich würde interessieren, wie es Euch heute geht: Wer von Euch kann es gar nicht erwarten, loszugehen in ein neues Leben. Lieber heute als morgen! Hand hoch! (Vier melden sich, davon eine Person deutlich hinter der Reihe der Schülerinnen und Schüler)
Äh, nee, ich meinte jetzt nur die Abiturientinnen und Abiturienten! Alle anderen bleiben hier?
Segen mit Euch, die Ihr es kaum erwarten könnt!
Aber vielen von Euch scheint es Angst zu machen. Oder es erzeugt so ein Ziehen im Herz, Trauer, dass die gute Zeit in der Schule vorbei ist, dass Ihr den einen oder die andere vielleicht nicht mehr sehen werdet.
Dann erst recht: Segen mit Euch!
Denn ob Ihr wollt oder nicht, ob Ihr geht oder bleibt: Ihr trennt Euch – von Eurer Kindheit. Ihr verlasst – die Geborgenheit Eurer Heimat und Familie und der Freunde, wo man alles kennt und alles seinen vertrauten Gang geht, vorhersagbar, einschätzbar. Ihr macht eine Trennung durch.
Und nicht nur Ihr, Eure Mütter und Väter, Eure Geschwistern und Großeltern ebenso. Und auch wenn es wahnsinnig schwerfällt: Das ist gut so. Das ist richtig. Das war schließlich das Ziel vom ganzen Großziehen: dass Ihr erwachsen und eigenständig werdet.
Wie gut zu wissen: Da ist jemand, der verlässt Euch nicht. Die-der versteht eure Gedanken von ferne, wie ein guter Freund, eine gute Freundin. Gott geht immer mit. Trennt sich nie von Euch. „Ich gehe oder liege, so bist du um mich“ - selbst „am äußersten Meer“ wird Gottes „Hand Dich führen“ und seine „Rechte Dich halten“.
Jetzt würde ich Euch am liebsten Eure Handys abnehmen. Ich würde jedem und jeder eine App runterladen: nämlich die Bibel. Damit Ihr die immer dabeihabt. Denn die ist genau für solche Leute wie Euch geschrieben worden: für Menschen, die auszogen und ausziehen werden. Nicht nur aus Ägypten. Sondern auch aus Nienburg. (Ah einige signalisieren, sie haben sie schon. Reli-Leitsungskurs... Alles klar, sehr gut!)
52mal heißt es in der Bibel „Fürchtet Euch nicht“, „fürchte dich nicht“, „vertrau auf Gott und hab keine Angst“. Einmal für jede Woche. Also nimm deine Bibel mit. Und lass dich daran einmal die Woche erinnern, dass Gott zu Dir sagt: „Fürchte dich nicht. Ich bin mit dir! Weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.“ Jes 41,10
Denn als Christin und Christ hast du mit Christus schon immer deinen besten Freund mit dabei. Du bist Deinen Ängsten nicht ausgeliefert. Die haben nicht das letzte Wort über Dich. Benenne sie, banne sie: Sag deinem Gott: „Ich habe Angst!“ Und sag deiner Angst: „Ich - habe Gott.“
Sag deinem Gott: „Ich habe Angst!“ Und sag deiner Angst: „Ich - habe Gott.“
Du hast einen Freund, eine Liebe, die stärker ist.
Kennt Ihr das Video zu dem Song von Khalifa? Man sieht erst kurz das Meer. Dann eine Straße, die der Sänger alleine entlanggeht.
Lalalalaala lalalalalaa… "It’s been a long day without you my friend. And I’ll tell you all about it when I see you again. We’ve come a long way from where we began. Oh I’ll tell you all about it when I see you again."
"And what’s small turned to a friendship, a friendship turned to a bond. And that bond will never be broken, the love will never get lost. The love will never get lost." Amen.
Liebe Gemeinde,
wir wollen sie nicht haben, ja wir behaupten sogar oft, wir hätten keine. Und doch pflegen wir sie unaufhörlich. Es ist unangenehm zuzugeben, dass man welche hat. Aber sie sind menschlich und sogar notwendig.
Sie helfen uns Ordnung zu schaffen und sparen Zeit. Wo sie sind, werden wir sie kaum noch los. Ja, wir vererben sie sogar zum Teil. Aber das macht sie leider nicht weniger unfair!
Nein, es geht nicht um Läuse. Es geht um: Vorurteile. Oder im Wissenschaftssprech: um „Implizite Assoziationen“. Das klingt schon neutraler. Denn es gibt negative und positive Vorurteile, also sozusagen: Vorschusslorbeeren. Aber wer „Vorurteil“ sagt, verwendet das Wort fast immer negativ. Wir haben also auch dem Vorurteil gegenüber ein Vorurteil…
Falls jemand von Ihnen sich fragt: Habe ich aufgeklärter Mensch wirklich Vorurteile? Werde ich anderen manchmal nur aufgrund von haltlosen Vermutungen nicht gerecht? Immerhin denken 3% der Deutschen, sie hätten keine. 25% sind sich keiner bewusst. Dann empfehle ich auf der Website der Harvard Universität einen der Tests zu machen, die dort kostenfrei zu verschiedenen Themen angeboten werden. Es gibt auch eine deutsche Ausgabe. Einfach über eine Suchmaschine suchen.
Heftige Vorbehalte, und zwar negative, hatte nachweislich auch der Pharisäer Simon, und zwar gegenüber Frauen einer bestimmten Berufsgruppe. Und damit dürfte er bis heute nicht alleinstehen. Davon erzählt unser Predigttext, und er erzählt auch, wie Jesus darauf reagiert.
Ich lese aus dem Lukasevangelium, dem 7. Kapitel die Verse 36 bis 50.
36Es bat ihn aber einer der Pharisäer, mit ihm zu essen. Und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch.
37Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Alabastergefäß mit Salböl 38und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu netzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit dem Salböl.
39Da aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin.
40Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es! 41Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. 42Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er’s beiden. Wer von ihnen wird ihn mehr lieben? 43Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er mehr geschenkt hat.
Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt.
44Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen genetzt und mit ihren Haaren getrocknet. 45Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. 46Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. 47Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.
48 Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben. 49Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch Sünden vergibt?
50Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!
Eine „Sünderin“ nennt der Evangelist die Frau, die hier namenlos bleibt. Doch ist sie offensichtlich dem Gastgeber und den Gästen bekannt. Es handelt sich um eine Prostituierte, davon ist auszugehen, auch wenn sie hier nur „Sünderin“ genannt wird. Mehr erfahren wir von ihr nicht. Nichts über die Gründe, warum sie als solche arbeitet. Vielleicht die pure Not? Nichts über ihr sonstiges Leben.
Auch welche Vorurteile genau der Pharisäer Simon ihr gegenüber hat, wird nicht gesagt. Aber wir brauchen uns nicht über ihn zu erheben. Jedenfalls geht das hier für ihn gar nicht - das, was sie in seinem Haus tut: weinen, küssen und salben. Vermutlich auch schon nicht, dass sie es geschafft hat, überhaupt hereinzukommen. Hat man am Eingang gedacht, sie gehöre zum Personal?!
Jedenfalls stört sie Simon. Er hatte sich das Essen mit Jesus anders vorgestellt: Eine gepflegte Unterhaltung, ein bisschen theologische Provokation, tiefgehende Diskussionen mit dem Promi-Gast. Und bestimmt, dass ihm hinterher beim Abschied seine Gäste auf die Schulter klopfen und für den gelungenen Abend danken.
Warum auch nicht, da spricht ja nichts dagegen. Aber dann - kommt sie herein! Weint, küsst und salbt. Ganz unerwartet. Sie kommt von hinten, keiner sieht sie kommen, niemand kann es rechtzeitig verhindern.
Liebe Gemeinde, ich schätze, solche Störungen kennen Sie auch.
Sie haben z.B. eine Party geplant, alles sollte perfekt sein. Doch dann benimmt sich ein Gast total daneben. Also an die peinliche Rede einer Tante bei meiner Hochzeit erinnere ich mich bis heute…
Ihr freut Euch auf ein Treffen mit Freunden. Und dann ist da einer, der redet unaufhörlich nur von sich. Egal, welches neue Thema Ihr anschneidet, er schafft es sofort wieder, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich, ich, ich. Das nervt doch total.
Was tun? Wie gehen Sie und wie geht Ihr Jugendlichen mit solchen Störern, die einem alles kaputt machen, um?
Der Gastgeber in unserer Geschichte ärgert sich sehr. Und Simon denkt: „Wäre Jesus ein Prophet, dann wüsste er doch, was das für eine Frau ist und würde sie wegschicken.“
Nun, Jesus ist immerhin Prophet genug, um zu merken, was Simon gerade denkt. Er weiß sehr wohl, „was das für eine ist“:
Nämlich eine, die sich traut, inmitten der Männergesellschaft Jesus ihre Liebe unmittelbar und emotional zu zeigen. Überschwänglich, leidenschaftlich.
Eine Frau, der Jesus so viel wert ist, dass sie viel Geld für Salböl ausgegeben hat, um ihm etwas Gutes zu tun. Großzügig ist sie.
Eine Frau, die an ihn glaubt. Sie schenkt ihm ihr ganzes Vertrauen.
Und ja, dass sie eine „Sünderin“ ist, weiß er auch. Von dem gesellschaftlichen Urteil, dass Prostituierte Sünderinnen sind, ist auch er nicht frei. Was mich, ehrlich gesagt, irritiert. Aber er lebt in den Normen und Wertvorstellungen seiner Zeit. Und doch bricht er sie immer wieder auf und hinterfragt sie. Auch hier. Jesus sieht den Menschen jenseits aller Vorurteile. Und darauf kommt es an!
Ich kann mir vorstellen: Im nachhinein empört Simon wohl weniger das, was die Frau tut. Viel ärgerlicher ist das, was Jesus dann zu ihm sagt, zumal wenn andere es vielleicht mithören. Denn typisch Jesus: Er macht die Situation zu einem Lehrstück. Er will, dass Simon die Frau anders ansieht: jenseits ihres Gewerbes und jenseits einer Unterbrechung des gepflegten akademischen Austausches unter Männern.
Jesus lobt sie vor Simon. Er stellt sie, die Sünderin, über ihn, den rechtschaffenen Bürger und Hausherrn! Jesus sagt sinngemäß:
„Naja, Simon, eigentlich ist die Frau besser als Du! Sie hat mir die Füße gesalbt, während du mir nicht einmal Wasser zum Abwaschen des Staubes gegeben hast. Das täte man als guter Gastgeber durchaus. Sie küsst mir ständig die Füße, Du mich nicht einmal zur Begrüßung auf die Wange.“
Auf die Sündenbilanz kommt es Jesus nicht an. Ihm ist nicht der lieber, der weniger Schuld auf sich geladen hat. Er hält keinen Abstand zu der Frau, von der sich alle peinlich berührt abwenden. Er sieht sie, ihre Liebe und ihre Einsamkeit, ihr übervolles Herz und ihre Tränen. Was sie ihm sagt, ohne zu sprechen, indem sie weint, küsst und salbt.
Und dann erklärt er alle Urteile über sie für nichtig. Er spricht ihr Vergebung zu, wie nur er es kann. Damit richtet er sie auf, macht sie groß, stellt sie auf eine Stufe – nein, höher als alle Anwesenden. Holt sie in die Mitte der Gesellschaft. Denn sie ist nun keine Sünderin mehr. Sie ist nicht das, was alle von ihr denken. Sie ist eine ganz andere. Sie ist sie selbst. Er macht sie frei von allen Stigmata und aller Verachtung.
Denn sie hat geliebt. Verschwenderisch und ohne Kalkül.
Und so soll es Simon auch halten. Statt an seinen Vorurteilen festzuhalten. Statt sich über die Unterbrechung zu ärgern, nur an seinen Ruf zu denken. Gern wird er das nicht gehört haben.
Und ich, höre ich das gern? Lasse ich es mir von Jesus sagen?
Vor-Urteile mögen nötig und hilfreich sein, weil sie uns helfen, alle Eindrücke schnell in Schubladen zu sortieren. Aber Vor-urteile werden unserem Gegenüber nicht gerecht, ver-urteilen ihn oder sie meist zu Unrecht. Und wir verbauen uns auch viel. Was dagegen hilft? Genau hinzusehen, Wertschätzung. Unser Herz zu öffnen für die, die wir ausgrenzen. Nicht zu sagen: Lass mich in Frieden, sondern: Friede sei mit Dir!
Denn der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Ich lese den Predigttext. Vier Verse aus der Bergpredigt, die beim Evangelisten Matthäus im 6. Kapitel stehen:
Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Leuten zertreten.
Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf dem Berge liegt, nicht verborgen sein.
Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind.
Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.
Sagt Jesus Christus.
Er sagt es zu seinen Jüngern.
Wer heute an Jesus glaubt, ist auch seine Jüngerin, sein Jünger.
Darum gilt Ihnen und Euch:
Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.
Das ist eine Feststellung, ein Zuspruch, auch eine Zumutung. Aber keine Option zur Auswahl.
Naja, liebe Gemeinde, den Kirchenaustrittszahlen nach zu urteilen, scheint unsere Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger Christi heute an Strahlkraft zu verlieren. Viele finden den Geschmack der Kirche fade und ihr Umgang mit Problemen bitter. Und überhaupt, wozu braucht man Kirche heute noch?
Sind wir noch Salz der Erde und Licht der Welt?
Ist es nicht vermessen, das zu behaupten?
Jesus sagt: Ja.
Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Leuten zertreten.
Salz kann nicht schlecht werden und nicht aufhören, salzig zu sein. Es ist eine äußerst stabile mineralische Verbindung. Es hat kein Haltbarkeitsdatum. Was verderblich ist, ist allenfalls organisches Material, was den Salzkristallen anhaftet.
Wenn Jesus vom Salz spricht, das nicht mehr salzt und zu nichts mehr nütze ist, meint er das hypothetisch. Dann denkt er nicht an die Sachebene – das Salz. Das ist immer salzig. Er denkt vielmehr an die Bildebene: an die Menschen. Die können sich weigern, ihre Würzkraft einzusetzen.
Dabei ist Salz ein wertvoller und ein für uns Menschen, ja für die ganze Erde lebenswichtiger Stoff. Auch in kleinen Mengen!
Es braucht gar nicht viel, auf die Menge kommt es nicht an. Auch wenig Salz erfüllt schon seinen Zweck.
Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.
Ich denke an die, die in kirchlichen Chören und Bands singen und spielen und die Gemeindebriefe layouten.
Ich denke an die, die bei Festen mitanpacken,
und die, die Gruppen leiten.
Ich denke an die jugendlichen Teamer
und an alle, die den Gemeindebrief austeilen.
Ich denke an diejenigen, die die Homepage aktuell halten und
an die, die mit Kaffee und Kuchen Menschen in der Kirche willkommen heißen.
Ich denke an die, die Leitungsverantwortung tragen
und diejenigen, die Kinderfrühstücke organisieren.
Ich denke an alle, die in dieser Gemeinde aktiv sind.
Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.
Ich denke auch an diejenigen, die Kinder erziehen und sich um Familienangehörige kümmern. An die, die sich in Vereinen am Ort engagieren oder in den Kitas und Schulen. Ich denke an jede, die freundlich zu anderen ist und hilfsbereit. Die Interesse am Mitmenschen zeigt und nachsichtig ist. An alle, die Nächstenliebe üben in den verschiedensten Weisen. Als Jüngerinnen und Jünger Jesu Christi. Weil Jesus gesagt hat: Liebet Eure Nächsten wie Euch selbst.
Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.
Ja, es sind teils kleine Dienste, nicht welt-bewegend. Und doch unverzichtbar! Was wäre unsere Gesellschaft ohne sie?
Salzkörner sind auch winzig, ein einzelnes ist kaum zu sehen. Doch schon eine Prise macht einen großen Unterschied.
Eine Prise – ich habe es nicht gezählt, aber ausgerechnet: das sind ca. 8.000 Salzkörner. 0,4g ist eine Prise, 50 Mikrogramm ein Salzkorn.
Wo viele sich engagieren und einander zugewandt leben, sieht die Welt anders aus, und Menschen finden Geschmack am Leben.
Liebe Gemeinde, ich war im Urlaub. Ich hatte das Glück, abends den Sonnenuntergang vom Balkon unserer Ferienwohnung aus genießen zu können. Mit Blick auf einen See und Berge am anderen Ufer. Was sich an den Hängen befand, war nicht gut zu erkennen. Viel Wald, manches lag auch im Schatten verborgen. Der herrliche See zog meine Aufmerksamkeit auf sich.
Doch kaum war die Sonne weg, fing es auf dem Berg an mehreren Stellen an zu leuchten: In einzelnen Häusern gingen die Lichter an, so weit weg, so klein, ein einzelnes Licht kaum zu sehen. Doch es wurden immer mehr. Die Lichtpünktchen verbanden sich zu großen Lichterflecken und schafften es, bis zu unserem Ufer herüberzuleuchten. Kleine Städte wurden sichtbar.
So ist das mit den Lichtern: Wenn eitel Sonnenschein ist, sieht man es nicht. Manchmal ist unsere Küchenlampe an, aber wir merken es gar nicht. Doch wenn die Finsternis hereinbricht, scheint das Licht hell auf, wird wichtig. Gibt Orientierung. Ist leitend und tröstend. Dazu ist es ja da.
Es macht keinen Sinn, einen Eimer über die Kerze zu stülpen, sagt Jesus. Die Kerze soll doch Licht spenden und anderen helfen, sich im Haus zurechtzufinden.
Klar, denken wir. Logisch. Aber wir handeln nicht danach. Wir stellen tatsächlich unser Licht unter den Scheffel. So wie es die Redensart, die aus unserer Bibelstelle herrührt, sagt. Wir setzen unsere Gaben nicht für andere ein, aus falscher Bescheidenheit vielleicht, aus Bequemlichkeit womöglich.
Oft meinen wir, wir als einzelne und als kleine Gemeinschaft von Jünger und Jüngerinnen Christi könnten nichts ändern. Wir seien unbedeutend. Wir könnten es auch gleich sein lassen.
Dieser Tage mag angesichts der vielen Krisen in der Welt dieser Eindruck besonders groß sein. Dabei ist es umgekehrt: Gerade dann, gerade jetzt braucht es Hoffnungsmenschen, die ihr Licht leuchten lassen.
„Aber was kann ich als einzelne tun“, fragt sich manche. Sie können in Ihrem Umfeld viel tun. Und zusammen mit anderen kann man einen deutlich wahrnehmbaren Unterschied machen.
„Einen Unterschied machen“ oder „die Welt zu einem besseren Ort machen“, das ist eine Denk- und Ausdruckweise, die einem in den USA auf Schritt und Tritt begegnet: to make a difference, und: the world a better place. Das klingt nach Selbstüberschätzung.
Ich glaube aber, das ist gut biblisch: wahrzunehmen, dass jeder einzelne Mensch eine Berufung hat, eine von Gott gegebene Aufgabe. Jeder hat eine Bedeutung, jedes Leben einen Sinn.
Vor einigen Tagen hatte ich ein Gespräch mit einem Mann, der mir sagte: „Um mich herum halten mich alle für verrückt, dass ich Kirchenmitglied werden will. Ich sei doch ein cooler Typ, was ich denn in dem Verein wolle. Aber ich stehe dazu und vielleicht bringe ich den einen oder anderen dazu, seine Vorurteile über Kirche zu überdenken. Denn wer glaubt, der muss das auch zeigen.“
Und ich würde ergänzen: Es kommt in unserer Welt auf jede Christin und jeden einzelnen Christen an, so wie es in einem Essen auf jedes Körnchen Salz ankommt und auf dem Berg in der Stadt auf jedes Fünklein Licht.
Ihr seid…, sagt Jesus. Es braucht jede einzelne Person. Und als Gemeinschaft seid Ihr die Prise Salz und das Lichtermeer, das die Stadt auf dem Berg weithin sichtbar macht.
Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.
Es ist noch nicht lange her, dass ich in Nürnberg auf dem Kirchentag war. Ich bin ein großer Kirchentagsfan. Ich empfand es als ungemein ermutigend, mit mehr als 8.000 anderen Christinnen und Christen die Abendgebete mit Kerze in der Hand auf dem Marktplatz abzuhalten, oder einer Podiumsdiskussion zu lauschen und mitzudiskutieren, wie Frieden heute möglich werden kann. Wir Jüngerinnen und Jünger sind viele, mehr als nur eine Prise voll. Und das tut gut zu wissen.
Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Leuten zertreten.
Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf dem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind.
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde, es war in meiner ersten Gemeinde, bei einem Trauerbesuch. Dem Herrn, den ich besuchte, liefen die Tränen über die Wange, als er von seiner verstorbenen Frau erzählte.
Seine Tochter war auch da. Sie sagte nichts. Manchmal gibt es keine Worte, die trösten können. Manchmal ist es besser zu schweigen.
Aber sie strich ihrem Vater mit einer sanften Handbewegung über sein Gesicht und wischte ihm die Tränen fort. Er weinte daraufhin noch mehr. Doch seine Tochter nahm ein Taschentuch und fing immer wieder mit zärtlicher Berührung seine Tränen auf. Und er ließ es geschehen. Und nach und nach wurde er ruhiger.
Mich berührte diese Geste so sehr, dass ich sie noch gut in Erinnerung habe.
Von dem, der unsere Tränen trocknet, handelt der biblische Text, der heute der Predigt zugrunde liegt. Ich lese aus dem letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Johannes, Kapitel 21, die Verse 1 bis 5:
Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde,
denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen,
und das Meer ist nicht mehr.
Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem,
von Gott aus dem Himmel herabkommen,
bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.
Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her,
die sprach: „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen.“
Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein,
und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein;
und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen,
und der Tod wird nicht mehr sein,
noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein;
denn das Erste ist vergangen.
Und der auf dem Thron saß, sprach: „Siehe, ich mache alles neu!“
Und er spricht: „Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss!“
Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.
Das ist mein Lieblingssatz hier. Das ist meine Hoffnung. Dass Gott selbst uns tröstet. Ein schöner, zärtlicher Moment. Eine kleine Handbewegung nur, doch voller Fürsorge und Liebe.
– Aber, sie steht ja schon in einem seltsamen Kontrast zu den übrigen Bildern: Das ist von einem neuen Himmel und einer neuen Erde und einer neuen Stadt die Rede – das ist gleich richtig groß, darunter macht es Johannes nicht.
Siehe, ich mache alles neu, sagt Gott.
Nicht das Alte wird repariert, da entsteht etwas völlig Neues, Anderes.
Denn dass das Alte irgendwie wieder gut und heil und lebendig wird, das kann nicht sein, das weiß Johannes. Seine Welt, wie er sie kannte, war untergegangen, die gab es so nicht mehr. Damals, zu seiner Zeit, als die christlichen Gemeinden erstmals verfolgt wurden.
Bedroht, verfolgt, bestraft: Johannes wurde verbannt auf die Insel Patmos. Dort im Exil hatte er Visionen. In manchen Teilen seines Buches, der Offenbarung, sind es sehr merkwürdige Bilder, die ihm erscheinen, furchteinflößende. Er stand ja noch ganz unter dem Eindruck der erlebten Jagd auf die Glaubensgeschwister und der Ermordung unzähliger.
Doch Johannes war es gegeben weiter - oder tiefer - sehen zu können. Er schrieb auch Worte der Hoffnung für die, die in Bedrängnis waren, in Angst, in Verzweiflung. Sätze, die auch uns Hoffnung machen können. Die Bilder, die er dabei benutzt, malt er sozusagen nur in groben Pinselstrichen, deutet nur an, nimmt kaum Farbe.
Aber großformatige Bilder sind es!
Letztes Wochenende war ich in einem Museumsdepot. Dort gab es riesige Bilder, die in keinen Aufzug und durch keine normale Tür passen. Eins war 17 mal 3m.
Ein bisschen so kommen mir Johannes Bilder auch vor. Zu groß, um wahr zu sein. Bilder, die alles sprengen: unser Vorstellungsvermögen, unsere Möglichkeiten, sie in Worte zu fassen, die Wirklichkeit, die wir kennen. Er will uns Einblick geben in Gottes Zukunft für uns. In die Ewigkeit. In der alles ganz anders sein wird. Anders als alles, was wir uns denken können. Eine Welt, in der Christus regiert. Wo Gerechtigkeit und Frieden sich küssen.
Alles anders, neu, ganz neu. Aufregend neu. Schön. Wo Glücksgefühle uns durchströmen. Wie bei einer Hochzeit. Auch die Lesung für heute handelte schon von einem Hochzeitsfest. Wenn auch mit einem anderem Fokus.
Erinnern Sie sich noch an die Ihre, falls sie geheiratet haben? Stellen wir uns nicht auch deshalb Hochzeitsfotos auf, von uns als Braut und Bräutigam, um uns an die schöne Feier und das Glück der Anfangszeit zu erinnern?
So schön und froh und voller Liebe wird es sein, will uns Johannes mit seiner Vision sagen. Kein Tod, kein Leid, kein Geschrei und keine Schmerzen wird es dann mehr geben.
Denn das Erste ist vergangen. Siehe, ich mache alles neu.
Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.
So mancher von Ihnen hat in den letzten Wochen und Monaten viele Tränen vergossen. Sie haben am Krankenbett geweint und am Sarg. Ganz im Verborgenen oder gemeinsam mit anderen. Leise oder laut.
Tränen um einen Menschen, der nun fehlt.
Vielleicht auch Tränen der Erleichterung, weil das unerträgliche Leiden endlich vorbei ist.
Tränen, weil es einfach so furchtbar weh tut, ohnmächtig daneben zu stehen und nichts tun zu können.
Tränen der Verzweiflung: Wie soll es weitergehen?
Tränen um versäumte Momente, um das, was nicht war und doch hätte sein können.
Es ist gut, wenn wir weinen können, liebe Gemeinde. Tränen machen, dass die Trauer nicht erstarrt. Tränen, die fließen, helfen, im Schmerz lebendig zu bleiben.
Und dann ist Gott da und sagt:
Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. So erzählt es der Prophet Jesaja (Jes 66,13). Und er wischt unsere Tränen von unseren Wangen.
Ich frage mich, wie sich das wohl anfühlt, wenn Gott mir die Tränen abwischt? Wenn Gott mich in den Arm nähme, ganz behutsam und liebevoll. Ich stelle mir vor, er sähe mich an und sähe mir tief ins Herz. Er würde jede einzelne Träne auffangen. Nicht eine ginge verloren. Auch die ungeweinten Tränen kennt Gott, und die unterdrückten.
So zugewandt kann nur einer sein, der behutsam ist. Der mich kennt.
Der um meine Verletzlichkeit weiß. Der mir wirklich nahe ist.
Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, heißt es in unserem Predigttext. Gott richtet sich bei uns ein. In einer Hütte. Wörtlich steht da: in einem „Zelt“. Gott schlägt mitten unter uns sein Zelt auf.
Mit einem Zelt ist man beweglich. Gott geht uns nach, schlägt sein Zelt immer dort auf, wo wir sind. Das ist wirklich nah. Nur durch eine Zeltwand ist Gott von uns getrennt. Er schottet sich nicht ab. Er ist in Hör-, ja, Reichweite.
Gott kommt mir nah. Sieht meine Tränen. Trocknet sie, wie die Tochter die Tränen ihres Vaters auffängt. Geduldig und liebevoll. Liebe Gemeinde, das ist mir viel wert.
Und wenn ich wie Johannes auf meiner Insel sitze, verzweifelt, traurig und voller Angst, dann möchte ich am liebsten wie er weitersehen. Oder wenigstens weiterahnen. Dann möchte ich hineinglauben, mich und uns, in Gottes neue Wirklichkeit, die er für uns bereit hält: in den neuen Himmel und die neue Erde. Wo Gott wohnt. Wo es keinen Krieg und keine Gewalt mehr gibt. Keine Krankheit und auch der Tod nicht mehr sein wird, weder Leid noch Schreien noch Schmerzen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus unseren Herrn. Amen.
Liebe Gemeinde, heute fürchte ich mich nicht.
So oft hat Gott es den Engel in die Dunkelheit hineinrufen lassen.
Jahr für Jahr hören wir seine Worte:
„Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude,
die allem Volk widerfahren wird.“
Und ich höre auch das „Ja, aber“ und „von wegen Freude“ und „doch wohl kaum allem Volk auf dieser Erde“. „Bleiben wir doch mal realistisch...“ Ja, ich weiß auch, wie es ist. Krise über Krise, das kann einem schon Angst machen.
Aber heute höre ich auf den Engel - und nicht auf mich und nicht auf euch. Heute lasse ich nicht zu, dass die Engelsbotschaft in der Weite der Felder verklingt. Heute fange ich sie ein und halte sie fest, ganz fest bei mir, seine Botschaft. Heute fürchte ich mich nicht! Trotz allem. Ich habe keine Angst um mich, nicht um Sie und Euch und nicht um unsere Welt.
Um mich und die meisten hier muss man sich Gott sei dank auch nicht sorgen. Weil es uns vergleichsweise richtig gut geht.
Aber auch wenn wir nicht in Krieg und Elend leben: auch bei uns haben Menschen beängstigende Diagnosen bekommen, andere trauern um ihre lieben Verstorbenen, manche stehen vor den Scherben einer Beziehung oder sorgen sich um ihre Kinder oder ihre älter werdenden Eltern.
Ich fliehe nicht vor den schlechten Nachrichten. Ich finde es wichtig, hinzusehen und wahrzunehmen, mitzuleiden. Ich habe genauso wenig Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit wie alle anderen. Es ist nicht heile Welt! Aber - es ist der Heiland in der Welt.
Da war zum Beispiel diese fröhliche Stimme am Telefon, die gleich nach der Begrüßung freudestrahlend sagte: „Ihr Gebet hat geholfen.“ Es ist für mich diese eine gute Nachricht von beginnender Genesung, die es Weihnachten in mir werden lässt. Die Nachricht von einem Weihnachtsfest im Krankenzimmer nach vielen Tränen und Ängsten, von erleichterten Kindern und so vielen, die sich mit ihnen freuen. Babykleine gute Nachricht. Aber frag mal die, die es betrifft. Für die ist sie riesengroß.
Darum weiß ich: Es stimmt, was die Engel den Hirten gesagt haben.
Uns ist „große Freude“ „widerfahren“, denn uns „ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus der Herr, in der Stadt Davids“. „Und das habt zum Zeichen“, das und andere gute Nachrichten mehr. Sie alle haben diesen einen Grund.
Gewiss, es gibt noch immer genügend Gründe zur Sorge und zum Zweifeln gar zum Verzweifeln. Trotzdem, heute Nacht, heute fürchte ich mich nicht. Heute höre ich der Engel Botschaft, wie die Hirten sie gehört haben, damals auf dem Feld. Sie waren nicht misstrauisch, nicht gleichgültig, nicht ungläubig. Sie vertrauten dem Boten Gottes und beschlossen: „Lasst uns nun gehen gen Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist.“ Aktiv suchen sie nach dem Heil, das in die Welt gekommen ist.
Dabei hätten sie allen Grund gehabt, enttäuscht zu sein. Auf den Heiland, den Retter der Welt haben sie gewartet, auf Fanfaren und Armeen und einen siegreichen Aufstand. Stattdessen – ein Baby in einem Stall, was ein Witz. „Ja, aber“ hätten sie sagen können. Und „von wegen Freude“ und „doch wohl kaum allem Volk“. „Bleiben wir doch mal realistisch…“ Und überhaupt, was ist mit uns? Nichts an ihren Lebensumständen wurde besser für sie in dieser Nacht und nicht in der Nacht danach und auch die Jahre darauf nicht.
Und ich ahne ja nur, wie viele Menschen wie sie auf Veränderung hoffen, schon so lange, aber es ändert sich nichts. Vergebliches Hoffen auf Verbesserung der Lebensumstände oder Genesung, auf Liebe oder Anerkennung. Aber keine Engel kommen, keine Zeichen zu sehen.
Es ist diese Gleichzeitigkeit, die wohl ein Christenleben ausmacht.
Die Theologin und Autorin Christina Brudereck hat das einmal so formuliert. Sie werden das Zitat vom Gottesdienstbeginn darin wiederfinden:
Wir leben mit vielen Krisen.
Und trotzdem feiern wir.
Denn ja, auch die Weihnachtsgeschichte
begab sich zu einer Zeit,
als die Sehnsucht nach Frieden riesig groß war.
Nach Gerechtigkeit.
Ausgleich, Trost und Güte.
Damals erließ der erste römische Kaiser
einen Volkszählungssteuerbescheid.
Immer schon diese Gleichzeitigkeit.
Düster, Grausam-, Hoffnungslosigkeit.
Schnitt.
Plötzlich Sterne. Funken.
Lichter himmelweit.
Schnitt.
Ganz gemeines Leid.
Menschen auf der Flucht.
Nach Bethlehem. Ein Paar, zu zweit.
Schnitt.
Guter Hoffnung. Geburt.
Zu dritt. Ein Baby. Gott geweiht.
Schnitt.
Kein Platz. Gewalt. Kontrolle. Neid.
Schnitt.
Lauter Schnitte.
Und Verbundenheit – der krassen Gegensätze.
Himmel grüßt die Erde.
Wort wird wahrhaftig Mensch.
Mit Haut und Haaren.
Lungenflügeln, großem Herzen.
Ein Neugeborenes übernimmt.
Bruder Mensch aus Liebe.
Befreit. Seligkeit.
Nacht wird Weihnacht.
Dämmerung und früher Morgen.
Vom Stall zu Herden.
Und zu Trümmern.
Große Fragen und ein Lied
von Glanz und Gloria.
So viel Ungereimtes und alte Zeilen zum Geleit.
Wer weiß,
ob nicht der Schnee von gestern
morgen fällt?!
Wer weiß,
ob nicht mein Kinderglaube
das letzte Wort behält?!
Eva Zeller
Gleichzeitigkeit.
Immer schon.
Gegensätze, Widersprüche, Schnitte und Wunden.
Verbundenheit.
Große Krisen, Krieg,
Weltjahres-Dankbarkeit.
Wir traurig und bedrückt.
Dann wieder glücklich.
Mal verzweifelt.
Dann zuversichtlich.
Alles auf einmal.
Und alles angemessen.
Weihnachten wirkt manchmal
irgendwie unpassend.
Kommt aber vielleicht auch
gerade rechtzeitig.
Liebe Gemeinde, auch heute Nacht ist keine heile Welt. Doch der Heiland ist in der Welt. Darum „fürchtet euch nicht“, heute nicht. „Denn siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus.“
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Es begab sich aber zu der Zeit…. Vor über 2000 Jahren, so erzählt es das Lukasevangelium, da machte sich auf Josef aus Galiläa mit seiner Frau Maria, seinem vertrauten Weibe, die war schwanger.
Und als sie daselbst in Bethlehem waren, kam die Zeit, da sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.
Es begab sich aber zu der Zeit…. Vor über 3000 Jahren, so erzählt es das 2. Buch Mose, da ging hin ein Mann vom Hause Levi in Ägypten und nahm eine Tochter Levis zur Frau. Und sie ward schwanger und sie gebar einen Sohn und wickelte ihn in Windeln. Als sie sah, dass es ein feines Kind war, verbarg sie ihn drei Monate. Sie nahm ein Kästlein aus Rohr und verklebte es mit Erdharz und Pech und legte dort das Kind hinein. Dann setzte sie das Kästlein in das Schilf am Ufer des Nils.
< Denn sie durfte ihn nicht zuhause beherbergen. Der Pharao hatte geboten, alle Söhne, die geboren werden, zu töten. >
Aber die Schwester des Kleinen stand von ferne, um zu erfahren, wie es ihm ergehen würde.
Und die Tochter des Pharaos ging hinab und wollte baden im Nil, und ihre Dienerinnen gingen am Ufer hin und her. Und als sie das Kästlein im Schilf sah, sandte sie ihre Magd hin und ließ es holen. Und als sie es auftat, sah sie das Kindlein und siehe, das Knäblein weinte. Da jammerte es sie, und sie sprach: Es ist eins von den hebräischen Kindlein.
Da sprach seine Schwester zu der Tochter des Pharao: Soll ich hingehen und eine der hebräischen Frauen rufen, die da stillt, dass sie dir das Kindlein stille?
Die Tochter des Pharaos sprach zu ihr: Geh hin.
Das Mädchen ging hin und rief die Mutter des Kindes.
Da sprach die Tochter des Pharaos zu ihr: Nimm das Kindlein mit und stille es mir; ich will es dir lohnen.
Die Frau nahm das Kind und stillte es. Und als das Kind groß war, brachte sie es der Tochter des Pharaos, und es ward ihr Sohn und sie nannte ihn Mose; denn sie sprach: Ich habe ihn aus dem Wasser gezogen.
Herodes ließ in Bethlehem und in der ganzen Gegend alle Knaben töten, die zweijährig und darunter waren.
Doch ein Engel hatte Josef im Traum gewarnt. Und er hatte das Kindlein und seine Mutter mit sich genommen bei Nacht und war nach Ägypten entwichen, bis nach Herodes Tod.
In Ägypten spielt die Geschichte des Mose, der als Erwachsener Israel aus der Sklaverei führt. Die Geburtsgeschichte des Mose soll nach der Ordnung der Predigttexte am heutigen ersten Weihnachtstag gelesen werden. Als Parallelgeschichte zur Geburt Jesu.
Beides sind Retter, Mose und Jesus. Und bei beiden fängt die Bibel ganz vorne an, ihre Geschichten zu erzählen. Man hätte ja auch beim erwachsenen Mose und beim erwachsenen Jesus beginnen können, ohne den Anlauf über ihre Geburt.
Aber ich glaube, das hat seinen Sinn. Wir sollen sehen: Alles muss klein beginnen. Auch unser Leben hat wie das von Jesus und Mose mit der Geburt begonnen. Wir waren schutzlos und angewiesen auf die Fürsorge unserer Eltern oder anderer.
Wer Babys in der Familie hat, der weiß wieder, wie das ist: dieses totale Angewiesensein auf die Erwachsenen, die einen füttern und pflegen, geborgen halten und trösten. Am Anfang steht die Liebe ohne Wenn und Aber und das sich In-die-Arme-Werfen. Von Anfang an sind wir in Beziehung geworfen. Keiner sucht sich das aus oder tut etwas dafür. Aber ohne können wir nicht leben.
Hannah Arendt, die jüdische, deutsch-amerikanische Publizistin, spricht von der Gebürtlichkeit des Menschen. Sie rät, unser Menschsein vom Anfang des Lebens her zu verstehen, nicht von unserer Sterblichkeit und unserem Tod. Also so wie Lukas Jesu Menschsein von der Weihnachtsgeschichte her sieht.
Wir feiern nicht, dass Gott in Jesus die Welt verändert hat. Dazu hätte es nur die Geschichten vom erwachsenen Jesus gebraucht. Sondern wir feiern zuallererst, dass Gott in Jesus zur Welt gekommen ist. Hineingeboren in widrige Umstände.
Auch bei Mose waren es denkbar schlechte Vorzeichen, unter denen er geboren wurde. Bedrohung und Ungewissheit umgaben ihn von Anfang an.
Und wenn ich heute an widrige Umstände und Bedrohungen denke, dann fällt mir im Blick auf das zu Ende gehende Jahr eine Menge dazu ein. Aber das geht Ihnen bestimmt genauso. Ich muss das gar nicht aufzählen. Was war und uns beschäftigt hat und was weitergeht, das schwingt in unseren Gedanken und in unseren Gefühlen immer mit.
Die Dunkelheit, in der Jesus zur Welt kam, die schaukelnden Wasser, auf denen der kleine Mose seinem Schicksal entgegentreibt, all das prägt weiter unsere Welt, unser Leben.
Aber dieses Jahr Weihnachten feiere ich zweierlei:
Erstens feiere ich das Leben. Jesu Geburt und die Geburt jedes Kindes auf dieser Welt feiere ich und das Geschenk des eigenen Lebens. Ich freue mich, dass ich leben darf. Ganz unverdient. Ich bin dankbar für jeden Atemzug und jede Bewegung, für meine Beziehungen und für die Liebe. Alles kostbare Geschenke.
Und das beinhaltet zugleich die Aufgabe, Sorge für andere zu tragen. Teil eines tragenden und Halt gebenden Netzes für andere zu sein.
Zweitens feiere ich, dass Gott immer wieder neu mit seinen Menschen beginnt. Unter den widrigsten Umständen schenkt er Neuanfänge. Und wer weiß, vielleicht sind bereits in den Krisen dieser Welt Anfänge gesetzt zu rettenden Veränderungen. Ich gebe die Hoffnung darauf nicht auf und traue Gott zu, dass er weiterhin rettet.
Liebe Gemeinde, Geburtsgeschichten sind Hoffnungsgeschichten. Wenn Sie selbst Kinder haben oder kleinere Geschwister, Neffen und Nichten oder Patenkinder: Erinnern Sie sich an deren Geburt? Das Überwältigt-Sein vom Wunder neuen Lebens? Die Hoffnung, was nun alles werden würde? Und die Freude auf den gemeinsamen weiteren Weg?
Diese Dankbarkeit und Freude und Hoffnung, die nehme ich mit. Gott schenkt einen Neuanfang. Er fängt immer wieder neu mit mir an. Ja, nicht nur an Weihnachten, insofern ist Weihnachten jeden Tag. Aber in diesen drei Tagen nehmen wir uns Zeit: pflegen unsere Beziehungen zu unseren Liebsten und machen uns auf, die Geschichte zu sehen, die da geschehen ist. Und preisen und loben Gott für alles, was wir gesehen und gehört haben, wie denn zu uns gesagt war.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Endlich, liebe Gemeinde, bleibt es länger hell. Inzwischen kann man auch um 16 Uhr noch rausgehen zum Spazierengehen, ohne sofort in die Dämmerung hineinzulaufen. Es wird heller.
Von Licht, genauer vom Erscheinen Gottes in einem Feuer, einem brennenden Dornbusch erzählt der alttestamentliche Lesungstext für heute. Wir haben ihn gehört.
Vom Licht aus der Dunkelheit handelt der Predigttext für heute, den ich nachher lesen werden.
Licht ins Dunkel, liebe Gemeinde, brachte die am Donnerstagmittag veröffentlichte ForuM-Studie. Sie beschäftigt mich sehr, und vielleicht geht es Ihnen ähnlich. Die Studie führt uns in die finsteren Abgründe menschlichen Leidens und schrecklicher Verbrechen in unserer Kirche. Denn sie zeigt, dass es in der evangelischen Kirche in Deutschland in den vergangenen 80 Jahren erschreckend viele Fälle sexualisierter Gewalt gegeben hat. Nicht weniger als in der katholischen Kirche.
Überrascht haben mich die Zahlen und Hochrechnungen nicht. Aber entsetzt und wütend gemacht. Es ist gut, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Sie muss uns demütig machen. Und sie spornt mich an, dass wir in unserer Gemeinde alles dafür tun, dass unsere Räume sichere Räume sind für alle. Wir kommen auf dieses Thema im Laufe des Gottesdienstes später noch einmal zurück.
Auch am Donnerstag, abends, war ich bei einer Lesung. Der Radiomoderator und Musiker Eckert Stieg aus Hannover hat aus seinem Leben erzählt. Es war lange überschattet von seinem Alkoholismus und dem Tod naher Menschen: erst seiner Freundin, dann seiner Ehefrau und seiner Eltern. Schonungslos und offen hat er sich schließlich seiner Sucht, seinem Scheitern und seiner Trauer gestellt. Das hat mich sehr beeindruckt.
Was er erlebt hat, mag extrem sein. Aber ein paar Stufen herunter gedreht wird es auch anderen bekannt vorkommen. Ich habe vor diesem Hintergrund den Bibeltext für die heutige Predigt nochmal ganz anders gelesen.
Am heutigen Sonntag sind Verse aus dem 2. Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinth dran, Kapitel 4, 6 bis 10. Ich lese aus der Übersetzung der Guten Nachricht Bibel:
Gott hat einst gesagt: »Licht strahle auf aus der Dunkelheit!«
So hat er auch sein Licht in meinem Herzen aufleuchten lassen
und mich zur Erkenntnis seiner Herrlichkeit geführt,
der Herrlichkeit Gottes, wie sie aufgestrahlt ist in Jesus Christus.
Ich trage diesen Schatz in mir als einem ganz gewöhnlichen,
sehr zerbrechlichen Gefäß. Denn es soll deutlich sichtbar sein,
dass das Übermaß an Kraft, mit dem ich wirke, von Gott kommt
und nicht aus mir selbst.
Ich bin von allen Seiten bedrängt, aber ich werde nicht erdrückt.
Ich weiß oft nicht mehr weiter, aber ich verzweifle nicht.
Ich werde verfolgt, aber Gott lässt mich nicht im Stich.
Ich werde niedergeworfen, aber ich komme immer wieder hoch.
Ich erleide fortwährend das Sterben, das Jesus durchlitten hat,
an meinem eigenen Leib. Aber das geschieht, damit auch das Leben,
zu dem Jesus auferweckt worden ist, an mir sichtbar wird.
Liebe Gemeinde, viele, viele, viele machen genau diese Erfahrungen: von allen Seiten bedrängt zu sein, nicht mehr weiter zu wissen, ja: auch verfolgt zu werden, zu Boden geworfen. Aus den unterschiedlichsten Gründen.
Und manche dürfen dann auch ein „Aber“ erfahren: aber ich werde nicht erdrückt, aber ich verzweifle nicht, aber ich komme wieder hoch: denn Gott lässt mich nicht im Stich! Wenn das geschieht, wird Gottes Kraft sichtbar und spürbar. Dann weicht das Dunkle, es wird heller in unserem Leben.
Der Bibeltext spricht von uns Menschen als ganz gewöhnlichen, zerbrechlichen Gefäßen. Ich sehe da gleich einen Krug vor mir, aus Ton oder Steingut. Beige mit Henkel, praktisch, schön geformt. Lasiert, damit er wasserdicht ist. Aber nichts Besonderes, so von außen jedenfalls. Hinzu kommt auch noch, dass er etwas angeschlagen ist. Schaut man genau hin, sieht man Macken und feine Risse. Vielleicht sehen Sie ein ganz anderes Gefäß vor Ihrem inneren Auge...
Eine Freundin hat mich auf den Jugendroman „Margos Spuren“ von John Green aufmerksam gemacht. Er ist 2008 erschienen und erhielt drei Jahre später den Deutschen Literaturpreis, verfilmt wurde er auch, 2015. Darin heißt es an einer Stelle:
„Vielleicht ist es mehr so, wie du vorhergesagt hast, dass wir Risse bekommen. Am Anfang sind wir alle wasserdicht, aber dann passieren Dinge: Leute verlassen uns, lieben uns nicht oder verstehen uns nicht, oder wir verstehen sie nicht, und wir verlieren und scheitern und tun einander weh. Und so bekommen wir Risse. (…)
Und vielleicht ist gerade das die Zeit, in der wir einander sehen können und durch die Risse der anderen in sie hinein.
Wann haben wir uns das erste Mal richtig wahrgenommen? Als du durch meine Risse gesehen hast und ich durch deine. Davor haben wir nur die Bilder angesehen, die wir voneinander hatten. Erst wenn wir Risse haben, kommt das Licht herein. Und das Licht kann heraus.”
Und ich glaube, genau das meint unser Bibeltext. Etwas geschieht, widerfährt uns. Wir scheitern, tun einander, tun uns selbst weh. Wir bekommen Risse - unser Bild nach außen, unser Bild von uns selbst. Und wir stellen fest: Ich bin nicht gefeit, ich bin verwundbar, zerbrechlich, sterblich. Jeder Riss erinnert daran, so haarfein er auch sein mag.
Gott weiß darum und sieht es, hat uns ja nicht aus Stahl oder Plastik gemacht, sondern irdene Gefäße hat Gott geschaffen, quasi aus Erde, also Blut, Muskeln, Gewebe – keine Ahnung. In Bio war ich nie so gut. Wir sind darauf angelegt, Risse zu bekommen. Keine ist ohne. Und das soll so sein.
Bloß: wie damit leben, mit den eigenen Rissen und den, der anderen?
Eckert Stieg hat außerdem von einem Freund erzählt. Es war der einzige, der sich traute, ihm von Anfang an die Wahrheit zu sagen, als seine Alkoholsucht sichtbar und seine Arbeit immer schlechter wurde. Und es war der einzige, zu dem er während des Entzuges und später noch Kontakt hielt und dessen Freundschaft ihm blieb. Der hatte den Mut hinzuschauen. Und der hat offensichtlich mehr gesehen, als nur das Kaputte, Unschöne.
Ich finde den Gedanken so tröstlich, liebe Gemeinde, und ungemein bestärkend: Dass Gott ihr oder sein Licht in mir aufleuchten lässt.
Gott schenkt mir einen Schatz, und statt den in eine richtige Schatztruhe zu legen oder einen wehrhaften Tresor, legt Gott den Schatz in ein ganz gewöhnliches und sehr zerbrechliches Gefäß mit deutlichen Rissen.
Ja, durch diese kann das Licht erst in den Menschen hineinkommen.
Und nur so wird Gottes Herrlichkeit sichtbar. Durch die Risse und Löcher, die wir so haben, hindurch. In einer Schatzkiste würde es niemand sehen. Es braucht sie wohl, unsere Macken, das Unperfekte.
So wie damals in Bethlehem im Stall, wo Gottes Herrlichkeit durch die Bohlen des grob gezimmerten Bretterverschlages hinausleuchtete. Wer hätte sie in einem Futtertrog, einer Krippe vermutet?
So ist Gottes Licht in uns sichtbar. Gebrochen fällt es durch unsere Risse und Lücken, bescheint auch das Hässliche und Kaputte. Es ist Gottes Kraft und Geist, die in mir das Gute vollbringen und mich strahlen lassen. Ich sehe es als ein unverdientes Geschenk.
Angesichts des sehr musikalischen Gottesdienstes ist es, denke ich, angemessen, mit einem Zitat aus einem Lied die Predigt zu beenden, nämlich aus dem Song “Anthem” von Leonard Cohen. Der Refrain lautet:
Ring the bells that still can ring.
Forget your perfect offering.
There is a crack, a crack in everything.
That's how the light gets in.
Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Ich lese den Predigttext Matthäus 4,1-11:
1 Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde. 2 Und da er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. 3 Und der Versucher trat herzu und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden. 4 Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.«
5 Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels 6 und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben: »Er wird seinen Engeln für dich Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.« 7 Da sprach Jesus zu ihm: Wiederum steht auch geschrieben: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.«
8 Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit 9 und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. 10 Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: »Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.«
11 Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel herzu und dienten ihm.
Ich habe es versucht
nicht mehr so viel zu konsumieren, mir es zu versagen noch etwas zu kaufen, was ich eigentlich nicht notwendig brauche. Um die Umwelt und Ressourcen zu schonen. Ich ermahne mich, dass anderes wichtiger ist als Konsum. Man könnte den ganzen Tag nur mit schönen Beschäftigungen verbringen und sich mit Materiellem ablenken. Doch „der Mensch lebt nicht vom Brot allein“, und auch nicht von Netflix und shoppen, Essen gehen und reisen, so schön das alles ist. Sondern er lebt letztlich vom Wort Gottes, das schon mal stört und vor allem stärkt, den Blick auf meinen Nächsten und über das (eigene) Leben hinaus lenkt.
Ich habe es versucht
zu vertrauen, mir selbst und anderen und Gott. Manchmal geht das recht gut und manchmal scheitere ich. Wie schaffe ich es, mehr auf Gott zu vertrauen? Oft sind Gottes tragenden Hände so wenig spürbar und keine Engel in Sicht.
Ich habe es versucht
nicht alles unter Kontrolle haben zu wollen. Und mich nicht selbst zu überschätzen, zu meinen, ich sei meines eigenen Glückes Schmied. Nein, weder ich selbst noch irgendjemand anderes hat die Macht über Leben und Tod. Mein Leben ist ganz in Gottes Hand, Gott hat das letzte Wort.
Ich habe es versucht. Und ich bin immer wieder versucht, es zu vergessen: dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt. Dass ich Gott bedingungslos vertrauen kann. Dass Gott unser Leben in seiner Hand behält.
Die Geschichte über Jesu Versuchung, liebe Gemeinde, erinnert mich an all das. Und Jesus musste sich Ähnliches wohl auch bewusst machen. Gott selbst, sein Geist führt ihn in die Wüste. Mit Gottes Geist ausgestattet kann er aber dem Versucher widerstehen.
Das Substantiv „Versuchung“, liebe Gemeinde, kommt vom Verb „versuchen“. Wenn mich etwas zu verführen versucht, führt es mich in Versuchung.
Am Mittwoch hat die Fastenzeit begonnen. Wenn wir fasten, dann setzen wir uns bewusst einer – relativ kleinen - Versuchung aus. (Fastet jemand hier irgendetwas?) Ich versuche jetzt 40 Tage auf Schokolade zu verzichten.
Sollten Sie mich aber beim Kirchenkaffee gleich „erwischen“, wie ich einen Schokokuss esse, liegt das daran, dass der Sonntag immer vom Fasten ausgenommen ist: Sonst wären es ja von Aschermittwoch bis Ostern auch keine 40 Tage, sondern 46.
Bei Jesus gab es keine Ausnahmen, keine Pausen, kein bloßes Versuchen. Auch wenn ihm Zweifel nicht fremd waren. Seine Entscheidung gegen die Versuchungen des Teufels waren eindeutig und klar.
Dabei muss das schon wirklich verlockend gewesen sein, was ihm der Versucher angeboten hat. Tibi dabo, sagt der Teufel, wenn man es in der lateinischen Bibel liest, und zeigt ihm von einem Berg gleich mehrere Länder und ihre herrlichen Bauten und Straßen. Ein überwältigender Anblick muss das gewesen sein.
So schön, dass man in Barcelona den Berg vor der Stadt so genannt hat: Tibidabo. Von dort hat man wohl einen herrlichen Blick auf die Stadt mit ihren Herrlichkeiten.
Eine wirkliche Versuchung im christlichen Sinne ist die Verlockung zu sündigen: also unsere Beziehung zu Gott aufs Spiel zu setzen, unseren Glauben in die Tonne zu treten und Gottes Gebote für unwichtig zu erklären.
Schon ganz zu Beginn der Bibel, kaum ist der Mensch erschaffen, geht es los mit der Versuchung, so menschlich ist sie. Quasi von Anfang an ist unsere Schwäche sich verführen zu lassen mit eingebaut, steckt in den Genen. Von Adam und Eva, die aus dem Paradies fliegen, haben wir gehört.
So ernst und gravierend ist das Thema, dass wir in jedem Vaterunser beten: „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“
Von Anfang an kannten die Menschen diese Gefahr. Gerade in Krisenzeiten ist sie natürlich groß.
Jesus war in der Wüste: ein Sinnbild für lebensfeindliches Land, für Gefahr, für Durststrecken. Es ist es eine Krisenzeit für ihn, eine Zeit der Versuchungen, in der ihm der Teufel nah ist.
Gott wird nicht erwähnt. Nur am Anfang als Geistkraft und am Ende in Form seiner Boten, der Engel, die an des Teufels Stelle treten. Aber vielleicht ist Gott dennoch die ganze Zeit da, in seinem Geist, als Kraft? Hilft widerstehen und auszuhalten.
Kennen wir das nicht auch? Da muss man eine Krisen-, eine Wüstenzeit aushalten. Ganz für einen anderen da sein beispielsweise, dem es schlecht geht. Oder sich auf eine Prüfung vorbereiten und alles andere beiseite schieben. Oder einen Menschen ertragen und an einer Beziehung festhalten, die unerträglich geworden ist. Oder eine weitreichende Entscheidung treffen, verteidigen und durchhalten.
Und manchmal wünschte man, es wären nur 40 Tage. Aber es dauert viel länger.
So vieles stellt sich da einem in den Weg. So vieles, wogegen man machtlos ist. Man kann es „Teufel“ nennen, dann haben Sie das Hindernis ausgelagert. Erklären Sie es sich psychologisch, dann ist es das Eigene, das einem im Weg steht: z.B. die vorhin erwähnte Gefahr, sich im Oberflächlichen zu verlieren und vorm Wesentlichen zu fliehen. Oder die Frage nach dem Vertrauen. Oder die Sache mit der Macht: was kann ich in meinem Leben kontrollieren, was habe ich in der Hand – was nicht?
In Krisen- oder Wüstenzeiten bin ich versucht, das Handtuch zu werfen. Mich von Gott abzuwenden, ihn zum Teufel zu jagen. Dann wünsche ich mir Wunder herbei, die Steine zu Brot werden lassen. Dann möchte ich mich einfach fallen lassen und hoffe, dass mich jemand auffängt. Und Macht möchte ich haben, wieder Macht über mein eigenes Leben, manchmal auch noch über das anderer.
Der Teufel hätte mit mir wahrscheinlich leichtes Spiel gehabt, damals in der Wüste. Oder Gott hätte mir ebenso Geistkraft geschenkt zu widerstehen – und hätte mir geholfen, das Wichtige im Blick zu halten, das, worauf es ankommt, Vertrauen zu wagen und demütig zu sein, statt meine Macht zu überschätzen. Manchmal lernt man das gerade in solchen Wüstenzeiten.
Paulus kannte das auch. Er macht den Christinnen und Christen in Korinth und heute auch uns Mut, wenn er schreibt: „Gott ist treu, der euch nicht versuchen lässt über eure Kraft, sondern macht, dass die Versuchung so ein Ende nimmt, dass ihr`s ertragen könnt.“
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Liebe Gemeinde, im Pfarrhaus muss eine Wand saniert werden. Donnerstag und Freitag sind Männer in Arbeitskleidung morgens zu uns gekommen und haben ihre Arbeit verrichtet. Dabei war jeden Morgen vor unserer Haustür dasselbe Ritual zu beobachten: Noch an ihren Fahrzeugen bewaffneten sich die Männer mit ihrem Werkzeug: Ihre Arbeitshosen und Jacken haben zahlreiche Taschen, in denen unglaublich viel verstaut werden kann. Und auch am Gürtel lässt sich noch manches befestigen. Gut ausgerüstet schritten sie dann zur Tat.
Gut gerüstet sollen auch wir uns aufmachen, sagt der Verfasser des ersten Petrusbriefes. Ich lese aus dem für heute vorgegebenen Text, 1. Petrus 1, die Verse 13 bis 17:
13 Darum umgürtet eure Lenden = Macht euch bereit. Und gebraucht euren Verstand. Bewahrt einen klaren Kopf. Setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade, die euch zuteilwird, wenn Jesus Christus wieder erscheint. 14 Ihr seid doch gehorsame Kinder (Gottes). Lasst euch nicht von Begierden beherrschen wie früher, als ihr noch unwissend wart.
15 Ihr sollt in eurer ganzen Lebensführung heilig werden – so wie der heilig ist, der euch berufen hat. 16 Denn es steht geschrieben: »Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.« 17 Ihr betet doch zu Gott als eurem Vater. Er beurteilt jeden nach seinem Tun, ohne Ansehen der Person. Führt deshalb ein Leben in Ehrfurcht vor Gott, solange ihr hier noch in der Fremde seid.
„Umgürtet eure Lenden = Macht euch bereit.“ Das klingt nach Aufbruch. Jetzt aber! Los geht‘s! Schuhe an und noch schnell in die Taschen gesteckt, was man so unterwegs braucht.
Es klingt im Ersten Petrusbrief nicht von ungefähr DER große Aufbruch an: der Auszug Israels aus Ägypten. Auch da sollen „die Lenden gegürtet“ sein - und Schuhe an, Stab in die Hand und vorher noch schnell etwas essen. So die Anweisung im 2. Buch Mose Kapitel 12. Wobei „Auszug“ nett klingt, so nach Umzug. Aber es war eine Flucht, Hals über Kopf und in der Nacht.
Uns bereit machen und aufbrechen, das gilt auch uns, sagt der Petrusbrief, das ist das Verbindende. Er meint: Aufbrechen in die Nachfolge Jesu Christi.
Das ist auch nicht immer leicht und angenehm. Wer sich heute noch als Christin und Kirchenmitglied outet, wird von vielen schief angesehen oder verspottet. Doch unterdrückt oder verfolgt werden wir hier und heute nun Gott sei Dank wahrlich nicht. Anders als noch die ersten Adressaten der Petrusbriefe. Sie lebten in einem ihnen wirklich feindlich gesinnten Umfeld.
Dennoch, „umgürtet eure Lenden“. Wir sollen uns bereit und auf den Weg machen. Und es braucht gar nicht viel, was wir in die Taschen und in den Gürtel stecken müssten: Nur unseren Verstand sollen wir gebrauchen und einen klaren Kopf bewahren. All unsere Hoffnung sollen wir auf die Gnade Gottes setzen. Denn genau das, unsere Hoffnung, die wir auf Jesus Christus setzen, macht uns als Christinnen und Christen aus!
Vor drei Wochen habe ich mit einem Ausschuss der Landessynode das evangelische Hilfswerk „Brot für die Welt“ in Berlin besuchen können. Wir hatten das Glück, die Direktorin Dr. Dagmar Pruin zu einem Gespräch treffen zu können. Ich war sehr beeindruckt, wie klar sie das christliche Profil von „Brot für die Welt“ ins Gespräch mit der Politik einbringt. „Wir tun unser Werk aus einer Perspektive der Hoffnung heraus“, hat sie gesagt, „wir sind unbeirrbare Hoffnungsträgerinnen“. Das macht den Unterschied.
Bei all dem Druck, unter dem die Direktorin des Hilfswerkes gerade jetzt steht, sind ein messerscharfer Verstand und ein kühler Kopf sehr vonnöten. Gott sei Dank hat sie beides!
Und wenn jemand in den Ministerien der Meinung ist, Entwicklungshilfe interessiere doch die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr, dann kann Brot für die Welt mit dem Hinweis auf kirchliche Kollekten und Spenden wirksam darauf hinweisen, dass das nicht stimmt. Als Kirchengemeinden bis hin zu den Landeskirchen tragen wir „Brot für die Welt“ und die „Diakonie Katastrophenhilfe“. Sie bilden zusammen mit der Diakonie Deutschland das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung. Das zeigt, dass wir die Hoffnung auf eine gerechtere Welt nicht aufgegeben haben. Wir tragen sie weiter.
Liebe Gemeinde, nicht nur spenden, sondern in unserer ganzen Lebensführung heilig sein sollen wir. „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“, sagt Gott.
Wir können zwar nicht Gott gleich sein. Wir können uns auch mit unserem Tun nie selbst retten. Aber Christus nacheifern, ihn zu unserem Vorbild und Gottes Willen zu unserer Richtschnur des Handelns machen - das können wir. Das ist Nachfolge. Das ist „heilig genug“. Denn „heilig“ heißt nicht „perfekt“ sein, sondern zu Gott gehörig sein, auf ihn zu vertrauen. Heilig ist, wer sich mit Hoffnung „umgürten“ lässt, Hoffnung auf eine gerechtere Welt und auf das ewige Leben.
So gut ausgestattet können wir losgehen. Wir werden weniger, wir werden kleiner. Aber wir haben dennoch den Spielraum etwas zu bewegen und zu gestalten. Und sei es im Kleinen.
Ausgerüstet mit Vertrauen in Jesus Christus lässt sich so manche Mauer sanieren, ja sogar neu bauen. Als Mitarbeitende Gottes. Das Fundament, auf dem wir bauen, ist Jesus Christus. Hier zitiere ich wieder mal wie so oft den 1. Korintherbrief. „Ein jeder aber sehe zu, wie er, wie sie darauf baue.“ Auf jeden Fall frohgemut und zuversichtlich, das steht uns gut an.
Ich schließe mit einem Ausschnitt eines Textes von Hanns Dieter Hüsch. Er wünscht sich, dass jede von uns an ihrer Hoffnung und an der Freude an dieser Hoffnung erkennbar sei:
Gott „möge uns auf Wege führen,
die wir bisher nicht betreten haben,
aus Angst und Unwissenheit darüber
dass der Herr uns nämlich aufrechten Ganges
fröhlich sehen will.
Weil wir es dürfen.
Und nicht nur dürfen, sondern auch müssen.
Wir müssen endlich anfangen,
das Zaghafte und Unterwürfige abzuschütteln.
Denn wir sind Kinder Gottes: Gottes Kinder!
Und jeder soll es sehen und ganz erstaunt sein,
dass Gottes Kinder so fröhlich sein können.
Und sagen: Donnerwetter!
Jeder soll es sehen und jeder soll nach Hause laufen
und sagen, er habe Gottes Kinder gesehen,
und die seien ungebrochen freundlich
und heiter gewesen,
weil die Zukunft Jesus heiße,
und weil die Liebe alles überwindet,
und weil Himmel und Erde eins wären,
und Leben und Tod sich vermählen,
und der Mensch ein neuer Mensch werde
durch Jesus Christus.