Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.
„Eine von diesen“ – diese drei Worte stehen in goldenen Lettern unter der großen Uhr an der Feierhalle des Ohlsdorfer Friedhofs in Hamburg. Als ich in Hamburg gewohnt habe, habe ich diese Worte oft von der S-Bahnstation aus gelesen. „Eine von diesen“. Darüber zwei Sterne und die Uhr selbst wie eine Sonne, in der Mitte jedoch eine große Dornenkrone.
Eine Uhr, die predigt.
„Eine von diesen“ – Gemeint ist eine Stunde von diesen, die die Uhr anzeigt. Eine Stunde wird einmal die unsrige sein, unsere Todesstunde. Und keiner weiß, wann das sein wird. Das ist bedrückend. Das ist aber auch besser so.
„Ihr wisst nicht, wann die Stunde kommt.“ So heißt es auch in unserem Predigttext für den heutigen Tag. „Darum seht euch vor und bleibt wachsam,“ schlussfolgert Jesus daraus. Ich lese aus dem Markusevangelium aus Kapitel 13:
Jesus spricht: „Darum seht euch vor und bleibt wachsam. Ihr wisst nicht, wann die Stunde kommt. Es ist wie bei einem Menschen, der über Land zog und verließ sein Haus und gab allen, die ihm untergeben waren Vollmacht und einem jeden seine Arbeit und gebot dem Türhüter, er sollte wachen.“
Dieser Mensch im Markusevangelium hat sein Haus bestellt, so sagen wir. Wie gut, wenn man an seinem Lebensende noch die Zeit und Kraft und den Willen dazu hat, alles zu regeln: das Erbe, die Vollmachten, den letzten Willen, die Patientenverfügung und wie man sich seine Beerdigung wünscht.
Nicht immer geht das. Manche von Ihnen haben das leidvoll erfahren müssen: wie unerwartet und plötzlich der Tod des geliebten Menschen kam. Oder wie plötzlich er oder sie erkrankt ist und fortan alle Zeit und Kraft in Arztbesuche, Therapien und die alltäglichen Herausforderungen investiert werden musste. Mehr war da nicht möglich.
„Wacht nun“, heißt es weiter bei Markus, „denn ihr wisst nicht, wann der Herr des Hauses zurückkommt, ob am Abend oder zu Mitternacht oder am Morgen, damit er euch nicht schlafend finde, wenn er plötzlich kommt. Was ich euch aber sage, das sage ich allen: Wachet!“
Es macht einen Unterschied, liebe Gemeinde, ob ich lebe, als lebte ich ewig und würde nie sterben. Oder ob ich lebe im Bewusstsein meiner Endlichkeit. Auf unserem Konfisamstag gestern zum Thema Tod und Auferstehung hat es ein Junge eindrücklich formuliert: „Nur weil ich weiß, dass ich einmal sterbe, sind besonders schöne Momente schön. Auch sie sind endlich und daher so kostbar. Würde ich ewig weiterlebe, wären sie nicht einmalig, dann wären sie nichts Besonderes.“
Wertschätzung, Dankbarkeit, aber auch Rücksicht auf andere Geschöpfe sind Konsequenzen dieses Bewusstseins der eigenen Sterblichkeit.
Wachsam sein, wie Jesus es im Markusevangelium mahnt, heißt sich bewusst zu sein: Mein Leben ist endlich, es kann jederzeit vorbei sein. Jeder Moment meines Lebens und das der anderen ist ein kostbares Geschenk unseres Schöpfers, ist vielleicht der letzte, ist unwiederbringlich.
„Eine von diesen“ steht unter der Uhr vom Ohlsdorfer Friedhof. Aber die Uhr, die predigt, hat noch mehr zu sagen. Da ist die riesige Dornenkrone in der Mitte des Zifferblattes und das Ziffernblatt, das Strahlen hat wie eine Sonne.
Die Dornenkrone weist auf Jesus Christus hin, sein Leiden, seinen Tod. Die Sonne auf den Morgen der Auferstehung. „Eine von diesen“ mag die letzte Stunde sein, die uns auf Erden schlägt, doch sie ist nicht das Ende bei Gott. „Gott hat uns Menschen so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, … das ewige Leben haben.“ (Joh 3,16)
Das ist meine Hoffnung und darauf vertraue ich im Leben und im Sterben: Bei Gott spielt Zeit keine Rolle mehr. Bei Gott heilen alle Wunden. Gott hält uns in seinen Händen mit allen schönen und besonderen Momenten unseres Leben.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unser Verstehen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Es begab sich aber zu der Zeit… zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Zur Zeit, da Augustus Kaiser in Rom war – da änderte sich das Leben in Israel. Denn es sollte alle Welt gezählt werden: Mann, Frau, Kind, Vieh, auch Äcker, Weinstöcke und Olivenbäume – der ganze Besitz. Alle sollten sich eintragen - und vor dem 31.12. noch schnell ihre Steuererklärung abgeben... Denn der Kaiser wollte wissen, was zu seinem Reich gehörte. Worauf er so alles Steuern erheben konnte. Und wie viele potentielle Soldaten er zur Verfügung hatte. Darum mussten alle in ihre Geburtsstadt gehen und sich registrieren lassen.
Just zu dieser Zeit wurden Maria und Josef zum ersten Mal Eltern. Ein neuer Lebensabschnitt brach für das junge Paar an. Jeder weiß das, der auch Kinder hat. Auf einmal bist Du nicht mehr nur Liebster und Liebste, Partnerin und Partner, sondern Mutter und Vater und gemeinsam Eltern. Verantwortlich für ein kleines Menschlein. Sollst immer da sein, wickeln und stillen, trösten und unterhalten. Die Nächte werden kürzer, die Sorgen größer, - die Freude aber auch.
Bis sie Teenager werden. Dann bricht nochmal eine neue Zeit an. Aber das ist eine andere Geschichte... Überhaupt, wo ist die Zeit hin, in der sie so schnell groß geworden sind?
Letztens beim Lebendigen Advent, da standen wir beisammen und überlegten. Wann war dies nochmal und jenes? Wir erinnerten uns nicht mehr genau, ob es ein, zwei, drei oder vier Jahre her war. Und eine half und fragte: „Na, war es noch vor oder schon in Corona?“
Das ist meine Zeitrechnung auch so oft in dieser Zeit: War es vor dieser Zäsur Pandemie oder nach dessen Beginn? Und alles währenddessen verschwimmt ein wenig in einem Zeitbrei.
Und doch ist da ein Datum, das sticht heraus. „Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents,“ ließ Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung drei Tage nach dem genannten Datum verlauten. Denn „die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“, erklärte er. Vor dem Überfall auf die Ukraine.
„Zeitenwende“ - das ist das Wort des Jahres 2022. Ganz offiziell von der Gesellschaft für deutsche Sprache am 9. Dezember dazu gekürt.
Sind wir nicht schon längst mitten in einer Zeitenwende angesichts der Erderwärmung und des Klimawandels?
Nach einer Zeitenwende - ganz anderer Art - sehnten sich die Hirten auf dem Felde. Denn sie kannten Not und Perspektivlosigkeit schon ihr Leben lang. Sie hatten kaum mehr Hoffnung, dass sich ihr Schicksal noch wenden würde. Wenden konnte es nur einer, so hofften es alle. - Alle, die noch Hoffnung hatten. - Nämlich der Messias, der von Gott Auserwählte und Gesandte. Frieden und Freiheit sollte er bringen, so sang man und erzählte sich seit alters her. Nach nichts sehnten sich die Männer bei den Herden mehr. Und damit nach fairer Entlohnung und Anerkennung ihrer Arbeit, nach Wärme und Zusammenhalt. Eigentlich nicht so viel anders als Menschen heute...
Auch bei ihnen schwang die Sorge angesichts der Weltlage mit, halt der ihnen bekannten Welt, ohne Diercke-Weltatlas und Google-Maps. Doch ob kleine Welt oder große Welt, die Steuergesetze des Augustus verhießen nichts Gute! Für die Hirten nicht und für niemanden im Römischen Reich.
Und dann änderte sich tatsächlich was. Nicht das Steuerrecht. Aber mit einem Mal war die Zeit gekommen. Und Engel mit ihr, eine große Schar. Statt eines Heeres an Soldaten waren es Heerscharen von göttlichen Boten. Statt dröhnender Stiefel auf den Pflastersteinen römischer Straßen - sirrender Flügelschlag in der unendlichen Stille der Weiden. Statt Marschmusik und Propaganda - heller Gesang und Loblieder zur Ehre Gottes: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“. Kein frommer Wunsch, sondern Ankündigung einer Wende.
Die Hirten eilten nach Bethlehem und sahen - statt eines großartig-königlich-pompösen Wumms - ein Baby. In einer Krippe, in einem Stall.
Das, was sie von Gott da zu sehen bekamen, ich weiß nicht, vielleicht war das an sich eher nicht so beeindruckend: Einfache Leute, prekäre Familienverhältnisse, spät dran und in einer Notunterkunft gelandet. Ein kleines Neugeborenes. Süß, ja, aber…
Nein, der "Wumms" war ganz woanders. Direkt bei ihnen, auf den Feldern. „Fürchtet euch nicht. Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“
Das, was der Engel ihnen da verkündigt hatte, das war der himmlische Hammer. „EUCH ist ein Kind geboren“, nicht nur der Maria und dem Josef und deren Familien. Es ist auch unser Baby. Ein besonderes: Es ist der HEILAND, der, der Heil bringen wird.
Gut, jetzt ist noch nicht viel davon zu sehen. Noch ist er klein. Aber mit seiner Geburt ist es schon da, das Heil, in der Welt. Noch wie verpackt unterm Baum. Aber da ist es. Uns geschenkt. Jetzt. Zeitenwende, wirklich wahr. „Denn euch ist heute der Heiland geboren.“
Ach, liebe Gemeinde, wann immer ich diesen Engelsspruch höre, rührt er mich an. Schon beim „Fürchtet euch nicht“ höre ich die Engel es mir persönlich ins Ohr sagen.
Es gibt Grund zum Fürchten genug. Aber genauso Grund zur Zuversicht!
Das ist bis heute die Botschaft der Heiligen Nacht: Euch ist heute Nacht der Heiland geboren. Eine „große Freude, die allem Volk“ und jedem einzelnen „widerfahren wird“. Und das ist ein Grund zu feiern.
Die Geburt Jesu, das war eine Zeitenwende für viele. Dass wir unsere Zeitrechnung nach dem vermuteten Datum des Geburtstages Jesu ausrichten, macht es deutlich. Seitdem wird HOFFNUNG großgeschrieben. Spätestens seitdem wissen wir, dass Gott auf unserer Seite ist. Wir sind ihm nicht egal, und er ist nicht fern und nicht untätig. Seitdem gibt es etwas, was stärker ist als meine und als deine Furcht. Jemand, der mich immer wieder aufrichten kann. Jemand, der sogar stärker ist als der Tod.
Persönliche Zeitenwenden haben sich 2022 bei manchem von uns abgespielt oder ziehen am Horizont auf. Große Veränderungen. Neue Lebensphasen. Schöne vielleicht, aber auch die brauchen Kraft. Oder todtraurige, Gott sei es geklagt. Und das noch zusätzlich zu den großen Veränderungen und Krisen, die uns eh schon alle betreffen.
Darum hört und lasst Euch zu Herzen gehen die Worte des Engels: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“
Amen.
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde, ich bin der schlechten Nachrichten überdrüssig.
Die Rückblicke, die man in den vergangenen Wochen in den Medien zu lesen bekam, führten einem noch einmal alles an Krisen und bedenklichen Entwicklungen vor Augen.
Doch eine Liste war anders, die habe ich mir aufgehoben.
Es ist sozusagen eine Gegenliste: eine Aufzählung guter Nachrichten. Kleine Triumphe, die – kurzzeitig - trösten.
Ich sehne mich nach mehr, nach Verstehen, wie alles zusammenhängt und warum so manches hat kommen müssen, wie es kam. Ob es einen tieferen Sinn dahinter gibt?! Ich sehne mich nach Lösungen und hoffnungsvollen neuen Wegen in allem, was uns Sorgen macht. Ja, ich wüsste gerne, wie alles weitergeht und hätte gerne happy ends. Ich sehne mich nach - Heil.
Da bin ich in guter Gesellschaft.
Mose war in gutem Gespräch mit Gott, „von Angesicht zu Angesicht,
so wie man mit seinem Freund redet“, heißt es im 2. Buch Mose (33,11). Also vis a vis, im Gegenüber. Das heißt aber nicht, dass Mose Gott je wirklich gesehen hätte. Aber genau das wünscht er sich. Er will mehr: „Lass mich Deine Herrlichkeit sehen, Gott“, sagt er.
Gott könnte nun zurecht antworten: „Mensch, Mose, siehst Du nicht, wie sich meine Herrlichkeit auf Erden spiegelt? Morgens, wenn noch alles friedlich um die Zelte ist, der Morgennebel sich hebt und die Sonne aufgeht. Wenn die Kinder später am Tag fröhlich um dich herumspringen. Wenn Ihr abends feiert und einander erzählt. Lasse ich den Glanz meiner Herrlichkeit nicht deutlich genug leuchten, immer wieder?“
„Lass mich Deine Herrlichkeit sehen, Gott“ bittet Mose.
Und Gott könnte jetzt auch sarkastisch werden und erwidern: „Mensch, Mose, seid Ihr Menschen nicht schon selbst-herrlich genug? Welches Feuerwerk müsste ich denn entzünden, das Euch so beeindruckt und von mir überzeugt, ein für alle Mal?“
Aber so ist Gott wohl nicht. Stattdessen antwortet Gott eher: „In Ordnung, aber…“ Folgendes lesen wir es in Exodus, also 2. Buch Mose, Kapitel 33 in den Versen 18 bis 23:
Mose sprach: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen! Und Gott sprach: „Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will vor dir kundtun den Namen des Herrn. Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. 20 Aber mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.
21Und er sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen.22Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. 23Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.“
„Lass mich Deine Herrlichkeit sehen, Gott.“
Doch Gott sehen, so richtig, liebe Gemeinde, das hält keine aus, das wäre zu viel. Gott bleibt ein Geheimnis, so bitter das manchmal ist.
Da ist und wird immer ein „unendlicher qualitativer Unterschied“ zwischen Gott und Mensch sein. Diesen Unterschied zwischen Gott und Mensch zu beseitigen – das war der Fehler des neuzeitlichen Menschen. So schreibt es der dänische Philosoph Sören Kierkegaard, der vor 210 Jahren geboren wurde.
Wir meinen nur, wir seien Gott gleich und uns selbst genug, wir hätten alles im Griff und brauchen keinen Gott. Doch wir sind nicht nur Lichtjahre von Gott entfernt. Im Gegensatz zu Gott sind und bleiben wir begrenzt und sterblich, können nicht alles verstehen und durchdringen, nicht jedes Problem lösen.
Den Graben zwischen Gott und Mensch überbrücken und den Kontakt herstellen, kann nur Gott selbst. Und das tut Gott in unserer Geschichte. Es ist zwar nicht die Erfüllung der berühmten drei freien Wünsche, dennoch gewährt Gott Mose dreierlei:
1.Er stellt sich ihm mit Namen vor. Das Erste, was man ja beim Kennenlernen so macht: Man nennt seinen Namen. Man macht sich bekannt - und so ansprechbar. Allerdings, bereits im brennenden Dornbusch hatte Gott sich Mose vorgestellt - mit dem kryptischen Namen: „Ich werde sein, der ich sein werde.“ Nun also: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“ Ich kann gar nicht anders, als Gott dabei mit den Achseln zucken zu sehen. Als wolle er sagen: „Ich gebe mich Dir zu erkennen, ich bin ansprechbar und da, ein gnädiger und barmherziger Gott. Ja, aber ich bin weder berechenbar noch beeinflussbar. Entscheiden tue ich allein.“
2.Gott kommt Mose ganz nah. Den Luftzug, wenn Gott an ihm vorbeigeht, kann Mose spüren. Trüge Gott ein Eau de Toilette, Mose könnte es riechen. Wie einen Duft, ein Luftzug eben, so flüchtig lässt Gott Mose seine Güte erahnen.
Aber es ist doch noch mehr: Gott stellt Mose dabei auf festen Grund. „Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen.“ Auch wenn der Boden unter Moses Füßen wanken mag, in Gottes Nähe kann er sicher und fest stehen.
Und Schutz ist dort! „Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin.“ Gott hält seine Hand über Mose. Sie verdeckt seine Sicht, sie schützt ihn aber auch. So wie man seine Augen mit der Hand bedeckt, wenn die Sonne grell scheint, um nicht direkt in sie hineinzusehen.
3.Ein Zugeständnis macht Gott dann noch: “Dann will ich meine Hand (wieder) von dir tun, und du darfst hinter mir hersehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.“
Wenigstens das: Von hinten darf Mose Gott sehen. Er sieht ihn im Schwinden, kann ihn nicht erkennen, nicht fassen. Denn Gott erweist sich als dynamischer Gott, immer in Bewegung. Nicht wie das goldene Kalb, das sich Israel gemacht und angebetet hat: in Form gegossen und starr. Nein, lebendig, unterwegs durch Zeit und Raum.
„Lass mich deine Herrlichkeit sehen, Gott“, denke ich. Klarheit will ich gewinnen und Gottes Heil schon jetzt auf Erden schauen. Oder wenigstens erahnen. Ich will immer wieder den Abglanz seiner Herrlichkeit auf Erden entdecken und mich daran freuen: Ich will hellen Schein in allem Dunkeln der Kriege und Krisen sehen, Hoffnungsschimmer glimmen sehen, und Buntes im Grau des Alltags erspähen. Gute Nachrichten eben. Und seine Herrlichkeit soll Klarheit bringen und alles durchleuchten und aufdecken und ins rechte Licht rücken, was verborgen, aber es wert ist, gesehen zu werden. Das wünsche ich mir!
Und ich glaube, liebe Gemeinde, dass die Zugeständnisse Gottes an Mose auch uns gewährt werden: Gott ist da für uns, ansprechbar.
Bete ich zu Gott, werde ich ruhig: ich merke, wie ich all das, was meine Kraft übersteigt in Gottes Hände ablegen kann. Gott wird sich erbarmen, dessen Gott sich erbarmen will. Er sieht schon längt, was ich übersehe und nicht erkennen kann. Und nähert sich…
In Christus hat Gott sich offenbart. Das feiern wir alle Jahre wieder in der Weihnachtszeit. Doch sein Nahesein ereignet sich zumeist ganz unerwartet. So nahe kommt Gott uns, dass wir den Lufthauch spüren. Da ist die Situation schon vorbei, ehe wir merken: Oha, da war Gott am Werk. Mögen es andere auch Glück oder Zufall nennen…
Gott gibt uns einen festen Ort, an dem wir sicher stehen können. Gemeinschaft kann so ein Fels sein, der mir Sicherheit gibt.
Und Gott hält seine Hand schützend über uns und schirmt uns ab. Damit wir nicht alles sehen, das würden wir nicht ertragen und nicht verstehen.
Aber das Beste ist: Gott geht an uns vorüber und geht uns voraus. Und ich denke: Wie schön! Wenn ich Gott nachsehe, schaue ich nach vorn. Es ist der in die Zukunft gerichtete Blick. Mir eröffnet sich der Weg, den Gott schon gegangen ist. Längst vor mir und uns und allen anderen. Gott ist vorausgegangen und hat eine Spur hinterlassen, der ich folgen kann. Auch wenn das nicht immer eindeutig ist, und einfacher klingt, als es tatsächlich ist. Aber ich muss sie nicht alleine gehen.
„Lass mich Deine Herrlichkeit sehen, Gott“, einst, wenn es soweit ist. Denn keine Lebende kann das. Doch für jetzt, für unser Leben reicht Dein Name und Dein Erbarmen. Es genügt Dein Nahesein, der feste Grund, auf dem wir stehen können, und Deine schützende Hand. Es langt der Weg, den Du uns vorausgehst, und deine Spuren, die du auf Erden hinterlässt.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unser Verstehen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Liebe Gemeinde, ich frage mich, wo sitzen wir eigentlich mal mit Menschen an einem Tisch, deren Gesellschaft wir uns nicht ausgesucht haben?
Manchmal kommen meine Töchter von Partys zurück, bei denen mehrere Gruppen eingeladen waren, die sich nicht kannten. Immer wieder ein Risiko: Mischen die Klassenkamerad:innen sich mit den Nachbarskindern aus demselben Ort, die aber auf eine andere Schule gehen? Kommt man über die Musik beispielsweise ins Gespräch oder über Influencer, denen man gemeinsam auf Tiktok folgt? Wo findet man Gemeinsamkeiten?
Ans traditionelle Pellkartoffelnessen hier in Nienburg muss ich denken. Seit 35 Jahren gibt es die Tafel, die sich im Juni die Lange Straße entlangzieht, mit Tischdecke und Porzellangeschirr. Weil die Stadt, die Blaue Garde, die Nienburger Bürgerinnenkompanie und die teilnehmenden Wirte die Nienburger dazu einlädt. Über die beteiligten Künstler wie Momo und die Musikgruppen – und natürlich über das Essen kommt man mit den Tischnachbarn ins Gespräch.
Jesus hat selbst nicht eingeladen. Er hatte kein Esszimmer, in dem er festlich den Tisch decken konnte. Er hatte nicht einmal eine Haustür, die er weit für Gäste hätten öffnen können. Aber wenn er bei jemandem zu Gast war, dann setzten sich viele dazu, die sonst eher unter sich blieben. Dann wurde es eine bunt gemischte Gesellschaft, die beisammen war. Sich vielleicht erstmals und zögerlich zunächst in die Augen sah. Die miteinander aßen und anfangs noch stockend nur ins Gespräch kamen.
Von einem Essen mit Jesus werde ich Ihnen erzählen und lese zunächst den Predigttext, den die Ordnung für heute vorschlägt: aus dem Mattäusevangelium Kapitel 9 die Verse 9-13.
Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.
Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern.
Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?
Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.« Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.
Liebe Gemeinde, ich schaue auf diese Szene und stelle mir vor, wer bei Jesus am Tisch sitzt. Mir fällt natürlich Matthäus ein, der Zöllner, den er gerade berufen hat, sein Jünger zu werden. Und die anderen Jünger, die er vor Matthäus schon gewonnen hatte. Und Matthäus‘ Zollkollegen. Ich denke auch an Ehebrecher und Prostituierte, Gewaltverbrecher und Betrüger. Sie werden im Neuen Testament „Sünder“ genannt. Und es heißt ja, es seien Zöllner und Sünder bei Tisch zusammen.
Auf jeden Fall eine bunt gemischte Gruppe, die sonst nicht viel miteinander zu tun hat. Man kennt sich vielleicht vom Sehen, aber trifft sich normalerweise nicht auf derselben Party.
Bei Jesus schon.
Matthäus richtet das Festgelage aus. Recht spontan, so wie sein Abschied aus seinem Leben ein spontaner Entschluss ist. Ohne lange Vorbereitungszeit. Daher ist es gewiss kein förmlicher Empfang mit großen Reden. Eher mit großen Emotionen. Und die, die mitfeiern, die stehen Matthäus nahe oder sie kommen, weil sie diesen widerständischen Jesus toll finden. Oder zumindest interessant.
Ich stelle mir vor, es sind erst wenige, Familie und Nachbarn, ein paar Kollegen nur, die zur eilig vorbereiteten und reichlich improvisierten Feier kommen, um Adieu zu sagen. Etwas Wein und Brot und Fleisch bringen sie mit. Man kann ja einem wegziehenden Jünger in spe schlecht Geschenke machen…
Alle sind zunächst ein wenig schüchtern, keiner weiß, was er sagen soll. Wann erlebt man auch sowas schon? Und dann werden es immer mehr, und Matthäus und seine Familie tragen immer mehr Tische nach draußen, das Esszimmer reicht ja längst nicht mehr. Und irgendwann muss es auch ohne Tische gehen. Und es werden immer mehr Menschen, neugierig angezogen von den lauter werdenden Diskussionen, den erstaunten Ausrufen und dem Lachen. Und wer weiß, vielleicht gab es mit fortschreitendem Abend auch Musik und das eine oder andere Tänzchen?
Ein bisschen muss ich dabei an die Flurfeten an der Kirchlichen Hochschule denken. Ein Wohnheimflur lud ein, es gab ein bisschen was zu essen und zu trinken, was in der Regel viel zu schnell weg war. Dann holten die, die auf den anderen Fluren lebten, schnell was von sich noch dazu. Und irgendwie reichte es dann auch für die Externen. Man kannte gar nicht alle, die da waren, denn viele brachten ihre Freundin oder ihren Freund mit. Aber es war immer nett. Gut, laut war es auch. Das werden nicht alle Nachbarn gut gefunden haben.
Und auch die Party bei Matthäus sehen manche kritisch: Die Pharisäer stehen am Gartenzaun und lästern: Was ist das hier für eine Party? Mit wem lässt Jesus sich hier ein? Das ist nicht gut für den Ruf und bringt doch nichts als Ärger.
Ich muss sagen, ich kann es auch nicht verstehen. Aber ich finde es ziemlich mutig. Schließlich werden Jesus und seine Gäste auch nicht bei allem derselben Meinung gewesen sein. „Nein, so viel Zoll zu nehmen, damit dein Profit hoch ist, ist überhaupt nicht gut“, dürfte Jesus gesagt haben. „Ich muss aber auch mal an mich denken, und ich habe Familie, und weißt Du überhaupt, was die Ausbildung meines Sohnes so kostet“, mag vielleicht ein Kollege von Matthäus geantwortet haben.
Also ich meide eher die Leute, die eine total andere Einstellung haben als ich und setze mich nicht von mir aus zum Essen mit Leuten zusammen, die beispielsweise Drogen verkaufen oder über Menschen anderer Herkunft schimpfen. Jesus hatte diese Berührungsängste nicht.
Er hat nicht über die anderen geredet, sondern mit ihnen. Er hat nicht nur diskutiert und seine Meinung gesagt und von Gott erzählt. Er hat mit den Menschen gefeiert und Gemeinschaft gehabt. Er ist ihnen auf Augenhöhe begegnet und hat sie akzeptiert, wie sie waren. Er verstand seinen Auftrag darin, für sie da zu sein. Gerade für die, die andere abzockten oder verletzten oder oder…
Gemeinschaft mit ihm und in seinem Namen, Gemeinschaft so unterschiedlicher Menschen untereinander und mit Gott – die wollte Jesus stiften. Denn so sieht das Reich Gottes aus, so will Gott es haben.
Sehr viel später dann, als Jesus allein war mit seinen Jüngern, beim Passahfest in Jerusalem, da nahm er das Brot und sagte: „Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird.“ Und er nahm den Kelch: „Das ist mein Blut, das vergossen ist zur Vergebung eurer Schuld.“
Und das zeigt uns: der Gartenzaun ist nicht unser Platz. Und zu den Gerechten zählen wir auch nicht. Wir gehören mitten hinein in die bunt gemischte Festgesellschaft.
Wir haben als die, die sich zum Gottesdienst hier treffen, ja auch nicht alle immer so viel miteinander zu tun. Wir kennen uns teils kaum und treffen uns normalerweise nicht auf denselben Partys. Bei Jesus schon.
Bei ihm sind wir alle gleich. Keiner ist besser und keine schlechter. Und auch wenn wir heute kein Fest miteinander feiern, nicht zusammen an einem Tisch richtig essen und trinken, wollen wir es dennoch zumindest im Kleinen tun: Gemeinschaft halten. In Brot und im Saft der Trauben. Mit Jesus mitten unter uns. Und in seinem Namen. Abendmahl feiern. Und daran festhalten: So wird es im Reich Gottes sein. Nur noch bunter und fröhlicher.
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war
und der da kommt.
Liebe Gemeinde, stellt euch vor: Eine aktive, eine lebendige, eine starke Gemeinde. Die Mitglieder können so viel, sind begabte Redner und großzügige Spenderinnen, kluge Organisatoren und fähige Musikerinnen. Sie können begeistern und die Bibel erklären, beten viel und stehen fest im Glauben.
Doch anstatt sich daran zu freuen, gibt es Streit.
Was ist richtig, wer hat Recht? Es entstehen Gruppen, die miteinander konkurrieren. Man macht sich gegenseitig Vorwürfe:
Ich bin der wahre Christ, weil ich in Zungen rede. Du nicht.
Ich bin die echte Christin, weil ich mein letztes Hemd hergebe. Du nicht.
Ich bin wirklich christlich, weil ich mich an die Speisegebote halte. Du nicht.
Sie ahnen es schon, ich spreche nicht von St. Martin, sondern so war es in der Gemeinde in Korinth.
Stellt euch vor, sagt der Apostel Paulus, eure ganze Stärke nützt euch nichts. Egal wie konsequent, wie genial oder wie gläubig ihr seid – wenn ihr keine Liebe habt, ist alles umsonst.
Ich lese den Anfang unseres heutigen Predigtextes. Das so genannte Hohelied der Liebe im Neuen Testament: das 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes:
Der Apostel Paulus schreibt an die Gemeinde in Korinth:
Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle Habe den Armen gäbe und meinen Leib dahingäbe, mich zu rühmen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze. (VV.1-3)
Lieblosigkeit macht alles kaputt, ruft Paulus ihnen zu. Auslöser ist die Feier des Abendmahls. Da fangen die einen schon früher an und lassen kaum mehr etwas für die anderen übrig. DieMitglieder, die Sklaven sind, müssen länger arbeiten. Wenn sie dann dazukommen, sind nur noch die schäbigen Reste da. Ausgerechnet beim Mahl der Liebe zeigen die Christinnen und Christen in Korinth, dass sie keine Rücksicht aufeinander nehmen und nicht in Liebe aneinander denken.
Aber immer Rücksicht nehmen, immer an alle anderen denken, immer lieben – kann man das schaffen?
Kennen Sie die Bücher vom kleinen Raben Socke? Meine Lieblingsgeschichte aus dieser Kinderbuchreihe ist die übers Bravsein. Der Rabe Socke will das Bravsein erlernen, weil er sonst keine Geburtstagsgeschenke bekommt. Und immer, wenn er seine Freunde fragt und von ihnen hört, was man alles tun muss, um brav zu sein, ruft er entgeistert: Das schafft doch keiner.
Wenn ich die Ansprüche des Apostels an die Liebe lese, möchte ich auch rufen: Das schafft doch keiner! Ich lese die weiteren Verse aus dem Hohelied der Liebe:
4 Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, 5 sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, 6 sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; 7 sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. 8 Die Liebe höret nimmer auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird.
„Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles.“ Das schafft doch keiner! Oder doch. Einer schon. Jesus ist konsequent den Weg der Liebe gegangen. Dafür wurde er angegriffen und starb am Kreuz. Er hat sich verwundbar macht. Das ist wohl so: Wer liebt, macht sich verwundbar.
Kann so lieben also nur der Eine, der nicht nur Mensch, sondern auch Gott ist? Warum hält Paulus den Korinthern und uns dies unerreichbare Ideal der Liebe vor Augen?
Um das zu beantworten, finde ich Verse aus einem anderen biblischen Brief hilfreich, dem 1. Johannesbrief. Dort steht: „Gott ist die Liebe.“ Und weiter zusammengefasst: Wir können lieben, weil Gott uns zuerst geliebt hat. Das macht uns erst fähig zu lieben. Liebe ist immer wieder eine Gabe Gottes. Und noch ein Zitat: „Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Nur mit Gottes Hilfe, mit Gott verbunden können wir so lieben, wie es das Hohelied ausführt. Aber da wir nicht eins sind mit Gott, ist die Liebe in uns immer gebrochen, nie rein.
Es wird auch nirgendwo erwartet, dass wir so vollkommen lieben wie Gott. Die Liebe erträgt alles, hofft alles…. - die Liebe, die Gott ist. Wir partizipieren an dieser Liebe, wir lassen uns davon schenken. Aber zur Vollkommenheit gelangen wir nicht. Keine von uns vermag alles zu ertragen, alles zu glauben, alles zu hoffen, alles zu dulden…
Stellen Sie sich die Liebe vor als ein Brot. Es duftet wunderbar und ist schön anzusehen. Es ist lebenswichtig. Es nährt uns. Wir empfangen es mittelbar von Gott. Denn Gott lässt wachsen, was es dazu braucht. Und Gott lässt es durch unsere Hände gehen.
Die Liebe ist wie ein Brot. Sie geht durch Menschenhände und -arme und -herzen. Und wir haben nie das ganze Brot. Einer allein ein ganzes Brot? Nein. Aber eine Scheibe können wir uns davon abschneiden. Jeden Tag.
Und dann, stellt euch vor, liebe Gemeinde, ihr liebt, so gut ihr könnt. Stellt euch vor, die Liebe wäre in allem, was ihr sagt und tut, - und sei es nur in ganz dünnen Scheiben.
Wie würden eure Leserbriefe aussehen? Wie würdet ihr über junge Menschen sprechen, die sich in ihrer Sorge um die Zukunft der Erde auf die Straße kleben? Würdet ihr hinnehmen, wenn Geflüchtete als Verbrecher abgestempelt werden? Wie würdet ihr über eure Nachbarn, Verwandte oder Kolleginnen denken, die so vermeintlich ärgerliche Sachen sagen oder tun, wäre die Liebe in euch?
Gut, von Scheiben oder Scheibchen steht nichts in der Bibel, aber von „Stückwerk“. Ich lese den Schluss unseres Predigttextes:
Paulus schreibt: 9 Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. 10 Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. 11 Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. 12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.
Ja, wir erkennen nur Bruchteile. Wir sehen nie das Ganze. Wir verstehen nicht, warum dies oder jenes geschieht. Und das ist oft ziemlich bitter! Unser Leben ist Fragment. Es ist ein Puzzle mit mehr Löchern als Bild. Wie auch unser Glauben. Und unser Lieben - ist genauso bruchstückhaft.
Keine von uns ist vollkommen und keiner muss es vor Gott sein. Und ich wünschte, wir wären gnädiger mit anderen und mit uns selbst.
Es gibt einen schönen kleinen Text des von mir geschätzten Theologen Hans-Joachim Eckstein:
Unser Mangel an Liebe
kann nichts an Gottes Liebe ändern,
aber Gottes Liebe
alles an unserem Mangel an Liebe.
Unser Unglaube
lässt Gott nicht schwächer werden,
aber Gottes Kraft
macht unseren schwachen Glauben stärker.
Durch unsere Verzweiflung
wird die Wirklichkeit des Himmels kein bisschen kleiner,
aber durch das Wirken des Himmels
unsere Hoffnung sehr viel größer.
Denn selbst unsere Sünde
kann Gott nicht von seiner Liebe abbringen –
aber seine Liebe uns von der Sünde.
Das Hohelied der Liebe wird gerne bei Trauungen gelesen. Den letzte Vers habe ich Ihnen noch vorenthalten. Er ist wahrscheinlich der beliebteste aller Trausprüche. Aber auch auf Friedhöfen finden wir ihn, auf unserem Leintorfriedhof zum Beispiel. Mit ihm will ich schließen:
13 Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
Und der Friede Gottes, der so viel höher ist als all‘ unsre Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Liebe Gemeinde,
der damalige Superintendent meines Heimatkirchenkreises in Wuppertal und spätere Präses, Manfred Rekowski, erzählte einmal von einem Vortrag eines Benediktinerabtes. Rekowski war zu einer Veranstaltung eingeladen worden, bei der es um das Thema „Gehorsam“ ging. Er sei recht lustlos dorthin gefahren, berichtete er. „Gehorsam“, was für ein Thema! Ist das nicht ein Relikt aller Tage? Und auf dem Weg zu dem Vortrag entwarf er in Gedanken ein evangelisches Gegenprogramm unter der Überschrift „Freiheit und Widerstand“. Auch ich denke bei Gehorsam gleich an „Kadavergehorsam“ und dass blinder Gehorsam brandgefährlich sein kann.
Doch bevor ich Ihnen von dem Vortag des Abtes erzähle, lese ich den Predigttext für heute. Die Perikopenordnung, die für jeden Sonntag einen Bibeltext vorschreibt, sieht für heute drei Verse aus dem Hebräerbrief vor. Ich lese aus Hebräer 5 die Verse 7 bis 9 nach der Guten Nachricht Bibel.
Als er noch auf der Erde lebte,
hat Jesus sich im Gebet mit Bitten und Flehen an Gott gewandt,
der ihn vom Tod retten konnte.
Mit lautem Rufen und unter Tränen hat er seine Not vor ihn gebracht.
Weil er treu zu Gott hielt, ist er schließlich auch erhört worden.
Und doch: Obwohl er Gottes Sohn war,
hat er zunächst durch das, was er durchmachen musste,
Gehorsam gelernt.
Nachdem er nun das Ziel erreicht hat,
ist er für alle, die ihm gehorchen,
zum Begründer ihrer ewigen Rettung geworden.
Liebe Gemeinde, Novizen, also angehende Mönche, und Mönche sind ihrem Abt gegenüber zu Gehorsam verpflichtet. Der Abt leitet das Kloster. Aber zu gehorchen muss jeder Klosterbruder auch erst einmal lernen. Widerspruch und Widerworte, erzählte der besagte Abt, waren in seinem Leben als „Anfänger“ im Kloster - aber auch später noch - an der Tagesordnung.
Noch spannender wurde der Vortrag aber, als er vom Gehorsam als Abt berichtete: Das sei 16mal schwerer gewesen als der Gehorsam als Mönch. Denn, so seine Erklärung: Die Mönche gehorchen einem Abt. Aber er als Abt gehorche allen 16 Mönchen. Seine vornehmliche Aufgabe als Abt sei nicht der Gehorsam gegenüber Ordensoberen, sondern Gehorsam gegenüber denen, die er zu leiten hatte. Was war damit gemeint?
Mein etymologisches Wörterbuch sagt: Im Wort „Gehorchen“ steckt „horchen“. In „Gehorsam“ „hören“.
Als Abt muss er 16 Mönchen „gehorsam sein“ im Sinne von: hören, was ihre Bedürfnisse sind. Seine Herausforderung ist es zum einen, auf die Bedürfnisse jedes einzelnen seiner Mönche und Novizen zu hören. Aber zugleich muss er die Führung behalten, also schauen, wie auch Gegebenheiten berücksichtigt werden und die Gemeinschaft geschützt wird. Nicht jedem Bedürfnis kann nachgegeben werden. Denn die Bedürfnisse des einen schränken wiederum die eines anderen oder die Gemeinschaft ein. Da gilt es für Abt, auf der einen Seite gut hinzuhören und auf der anderen Seite abzuwägen, was Priorität hat.
Liebe Gemeinde, im Hebräerbrief heißt es: Selbst Jesus, Gottes Sohn, hat Gehorsam gelernt, durch das, was er durchmachen musste. Dabei ist an sein Leiden zu denken: Sein Wissen, sterben zu müssen. Sein Gebet: „Vater, lass diesen Kelch an mir vorübergehen, doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ An seine Gefangennahme, Verurteilung und Demütigung. An seine Kreuzigung, sein Tod.
Jesus hat Gehorsam gelernt und damit Vertrauen. Vertrauen, dass Gott ihn durch das Leiden begleitet und leitet, durch den Tod hindurch zu ewigem Leben. Und das hat Gott.
Dass Jesus „gehorsam“ ist, das wird mit diesem genauen Wortlaut zwar nur hier im Hebräerbrief gesagt. Aber von dieser Umkehr der Verhältnisse, von der auch der Abt spricht, ist auch an anderen Stellen im Neuen Testament die Rede.
Paulus schreibt z.B. im Philipperbrief: Der Messias entäußerte sich selbst und nahm Sklavengestalt an. Also: Der Herr wird Sklave und lernt gehorchen.
Bei Markus haben wir in der Lesung gehört: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene.“
In Johannes 13 lesen wir, wie Jesus sich eine Schürze umbindet und den Jüngern die Füße wäscht.
Es wird deutlich: Jesu Gehorsam ist nicht nur Gehorsam nach oben, seinem Vater gegenüber, sondern auch ein Gehorsam denen gegenüber, die ihm nachfolgen.
Also Gehorsam auf beiden Seiten und untereinander, ohne alle Hierarchien zu stürzen und Autoritäten zu verneinen. Gott bleibt Gott und Jüngerin bleibt Jüngerin, Jünger bleibt Jünger. Jesus war eigentlich auch schon vor seiner Passion gehorsam in dem Sinne, dass er anderen diente.
Liebe Gemeinde, ein bisschen erinnert mich das, was der Abt erzählt hat, an Berichte von Firmenchefs, die unerkannt in die Rolle ihrer Angestellten schlüpfen, um deren Arbeit und Perspektive besser kennenzulernen. Ein Stoff aus dem Filme gemacht worden sind.
Oder an das Buch „Prinz und Bettelknabe“ von Mark Twain, das ich in meiner Jugend mal gelesen habe. Ein Prinz und ein Bettler, die sich zum Verwechseln ähnlichsehen, tauschen ihre Kleider. Der echte Prinz in Bettlerkluft wird aus dem Schloss gejagt, den Bettler in königlichem Gewand halten alle für verrückt, weil er immer wieder sagt, er sei gar kein Prinz. Aber der echte Prinz lernt das Leben seiner Untertanen kennen. Und als er ins Schloss zurückkehrt und den Thron besteigt, wird er zu einem gerechten und milden Herrscher.
Wenn jetzt nun unser „König“ Jesus zu uns normalem Volk kommt und gehorchen lernt, dann heißt das nicht nur: Wir haben einen Gott, der sich klein machen kann, der hinhört auf die Bedürfnisse seiner Menschen. Sondern dann heißt das außerdem: Wir haben einen Gott, der LERNT. Einen Gott, der sich verändert, der sich bewegen lässt.
Ich denke an das Gleichnis von der bittenden Witwe: Die Witwe liegt einem Richter lange in den Ohren, ihr Recht zu verschaffen. Doch der Richter will nicht. Irgendwann lässt er sich dann doch erweichen. (Lukas 18,1-8) Genauso ist Gott, sagt Jesus. Gott lässt mit sich reden.
Liebe Gemeinde, mit Bitten und Flehen wenden sich Menschen seit je her an Gott. Unter Tränen bringen sie ihre Not vor ihn im Gebet. So manche von uns kennt das, die Verzweiflung und Angst und das Beten zu Gott um Hilfe. Und wie viel mehr kennen das schwer Erkrankte in unserer nächsten Umgebung, und Menschen, die in der Ukraine oder in Äthiopien im Krieg leben - und so viele mehr. Ach, möge Gott doch mit sich reden lassen und für Frieden sorgen, wo Menschen es nicht tun!
Jesus musste das alles durchmachen, die Angst und die ganze Gewalt der römischen Soldaten. Weil er treu zu Gott hielt, ist er schließlich auch erhört worden. Er ist vom Tod auferstanden. Und so er ist für alle, die ihm gehorchen, zum Begründer ihrer ewigen Rettung geworden, heißt es im Hebräerbrief. Seine Auferstehung ist unsere Verheißung!
Liebe Gemeinde, für uns ist das ewige Leben noch Zukunftsmusik und Grund zur Hoffnung über alles Leiden und den Tod hinaus. Ich schließe mit einem Satz des Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer aus seinem Buch „Nachfolge“. Dort heißt es sinngemäß: „Gehorsam heißt sich zu entscheiden, den Ruf Jesu in die Nachfolge anzunehmen und sich darauf zu verlassen, dass Gottes Wort ein tragfähiger Boden ist. Es ist ein Boden, auf dem ich stehen und bauen kann. Tragfähiger als alle Sicherheiten dieser Welt.“
Und der Friede Gottes, der so viel höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.
Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.
Liebe Gemeinde, ein Bild ist mir im Gedächtnis. Viele, die in den Tagen nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien die Medien verfolgt haben, werden es kennen. Auf dem Foto ist ein Mann, Mesut Hancer zu sehen in einer orangenen Jacke, wie sie Rettungsdienste tragen. Er hält die Hand seiner 15-jährigen Tochter Irmak fest – sie wurde unter Trümmern begraben. Sie konnte nicht gerettet werden. Sie starb.
Ich habe auch eine 15-jährige Tochter. Wenn ich an das Bild denke, kommt der Schmerz des Vaters mir nahe und zerreißt mir das Herz.
„Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus.“ Damals, als Jesus starb. So erzählen es Matthäus und Lukas. Und nicht nur das: „Von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde.“ „Und die Erde erbebte außerdem, und die Felsen zerbarsten,“ schreibt der Evangelist Matthäus. Er kann das Geschehen auf Golgatha nicht so nüchtern erzählen, wie Johannes es später tut. Das Erschütternde und die tiefe Finsternis, die die Zeugen erlebt haben, muss er zum Ausdruck bringen.
„Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke.“
Jesus stirbt am Kreuz! Und wenig später kniet eine Mutter bei ihrem toten Sohn und hält ihn ein letztes Mal.
In unzähligen Kirchen und Museen habe ich die Beweinung Jesu als Skulptur oder als Gemälde gesehen. Michelangelos Pietà im Petersdom ist das bekannteste Beispiel.
Außerdem viele, wie Maria Jesus als Neugeborenes hält. Dazwischen gibt es keine Bilder: keins, wo sie ihn tröstet, wenn er hingefallen ist, oder wo sie ihm zuhört, wenn er zuhause etwas erzählt. Es gibt - so gut wie - nur diese beiden Szenen, die uns von Mutter und Sohn vor Augen geführt werden: Kurz nach seiner Geburt und kurz nach seinem Tod.
Maria geschieht, was der Alptraum aller Eltern ist: ihr Kind stirbt.
Da zerreißt alles von oben bis unten entzwei, gerät aus den Fugen, ihr Herz zerbirst.
Manchmal rühren mich die Bilder von Maria und Jesus an. Aber es sind keine Fotos, keine Momentaufnahmen. Sie gehorchen ästhetischen Regeln, sind Kunstwerke. Und ob Maria Jesus tatsächlich noch einmal hat in ihren Armen halten dürfen? Wir wissen es nicht, die Bibel erzählt es nicht.
Dennoch brauche ich dieses Bild. Damit Mesut Hancer, und damit ukrainische und russische Eltern, deren Kinder im Krieg in der Ukraine sterben, damit alle Eltern, die ein Kind verlieren, nicht allein sind mit ihrem Schmerz. Das Erdbeben, der Krieg haben ihr Leben zerrissen in ein Davor und ein Danach. Und selbst wenn die Trümmer irgendwann wieder weggeräumt und die Städte wieder aufgebaut sind, selbst wenn der Krieg in der Ukraine eines Tages zu Ende ist, werden die Mütter und Väter ihre Kinder nicht wiederbekommen. Und ihr Schmerz vergeht nicht, nach Jahren nicht und nicht nach Jahrzehnten.
„Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus.“ Und wir ahnen nur, dass es so viele Eltern auf der ganzen Welt gibt, die um ein Kind trauern. Leben, von denen wir nichts wissen. Von denen kein Bild erzählt, das um die Welt geht. Deren Schmerz aber genauso groß ist. Deren Herz zerrissen ist.
Ich denke an sie, immer wenn ich Maria sehe, wie sie ihren toten Sohn im Arm hält.
Liebe Gemeinde, heute ist Karfreitag. Und wir stehen da, hilflos angesichts des Todes. Und wir beten zu dem, der Leben gibt. Der sagt: „Es wird eine Zeit kommen. Da wird es keinen Tod mehr geben, kein Leid, keine Klage und keine Schmerzen. Das, was einmal war, ist dann für immer vorbei.“ (Offb 21) Darum glaube ich.
Aber heute, heute ist Karfreitag. Und ich sehe dieses Bild. Und ich merke, mich tröstet der Blick auf Ostern und diese Verheißung. Mich trägt aber auch das Kreuz. Jesus, der stirbt. Der schlimmstes Leid, Demütigungen, Folter und Tod durchleidet. Maria, der es das Herz zerreißt. Die ihren Sohn sterben sehen muss. Die ihn in den Armen hält. Tiefstes Leid auf der Welt nicht auszublenden. Mit zu erschrecken, zu zittern, zu zweifeln, auszuhalten und zum lebendigen Gott zu beten. Miteinander.
Denn der Friede Gottes ist höher als all unser Verstehen. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus. Amen.
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Tischgemeinde, alles ist bereitet. Die Tische sind mit Vorüberlegung aufgebaut – 12 Stühle an jeder Seite!, es ist liebevoll eingedeckt, das Essen in Vorfreude auf heute Abend geschnitten, gewaschen, auf Schalen verteilt. Sogar der rote Traubensaft ist schon eingeschenkt fürs Abendmahl. Weißwein steht für später in den Krügen bereit. Endlich können wir in St. Martin wieder Tischabendmahl feiern. Und ich schaue mich um und weiß, dass der eine und die andere von Ihnen sich auf heute Abend gefreut hat. Wir erinnern an das letzte Mahl, das Jesus mit seinen Jüngern hielt.
Die Jünger waren voller Vorfreude mit Jesus nach Jerusalem gegangen. Dort wurde er mit Jubel empfangen. Es war vermutlich für die meisten von ihnen ihr erstes Passahfest, das sie nicht mit der Familie feierten. Es war ihr erstes und einziges, dass sie in dieser Konstellation mit Jesus in Jerusalem feierten.
Doch es gab ein Problem: Es hatte sich keiner um die Vorbereitung gekümmert. Niemand hatte daran gedacht, rechtzeitig einen Raum zu mieten. Die Stadt war rappelvoll. Alle feierten.
Das ist so, als wenn Sie an einem Maiwochenende spontan versuchen, in Nienburg in einem Restaurant noch etwas für denselben Tag zu bekommen. Das können Sie vergessen! Kaum eine Chance, da noch was zu kriegen.
Wie das damals genau war, lese ich aus dem Lukasevangelium, dem 22. Kapitel.
7 Es kam nun der Tag der Ungesäuerten Brote, an dem man das Passalamm opfern musste. 8 Und er sandte Petrus und Johannes und sprach: Geht hin und bereitet uns das Passalamm, damit wir’s essen. 9 Sie aber fragten ihn: Wo willst du, dass wir’s bereiten? 10 Er sprach zu ihnen: Siehe, wenn ihr hineinkommt in die Stadt, wird euch ein Mensch begegnen, der trägt einen Wasserkrug; folgt ihm in das Haus, in das er hineingeht, 11 und sagt zu dem Hausherrn: Der Meister lässt dir sagen: Wo ist die Herberge, in der ich das Passalamm essen kann mit meinen Jüngern?
12 Und er wird euch einen großen Saal zeigen, schön ausgelegt; dort bereitet das Mahl. 13 Sie gingen hin und fanden’s, wie er ihnen gesagt hatte, und bereiteten das Passalamm. 14 Und als die Stunde kam, setzte er sich nieder und die Apostel mit ihm.
15 Und Jesus sprach zu ihnen: Mich hat herzlich verlangt, dies Passalamm mit euch zu essen, ehe ich leide. 16 Denn ich sage euch, dass ich es nicht mehr essen werde, bis es erfüllt wird im Reich Gottes. 17 Und er nahm den Kelch, dankte und sprach: Nehmt ihn und teilt ihn unter euch; 18 denn ich sage euch: Ich werde von nun an nicht trinken von dem Gewächs des Weinstocks, bis das Reich Gottes kommt. 19 Und er nahm das Brot, dankte und brach’s und gab’s ihnen und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis. 20 Desgleichen auch den Kelch nach dem Mahl und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird!
Liebe Gemeinde, mir ist dieser eine Satz noch nie aufgefallen oder wieder entfallen: Jesus sagt: „Mich hat herzlich verlangt, dies Passahlamm mit euch zu essen, ehe ich leide.“ Und ich stelle mir vor, wie er sie dabei anschaut. Alle 12, der Reihe nach. Und er sieht ihre Freude über das Fest und ihre Angst vor dem Leiden, das er ankündigt. Und er freut sich auch und hat selbst Angst.
Jesus ist das bewusste Abschied Feiern mit seinen Jüngern wichtig. Nicht nur, damit ihnen die Situation und die Bedeutung von allem, was danach kommt, klar wird. Nicht nur, um ihnen nochmal das eine oder andere in Ruhe mit auf den Weg geben zu können. Nein, er hat „sich danach gesehnt“, es war ihm ein emotionales Anliegen. Das hat er gebraucht. Für sich.
Liebe Gemeinde, was war ihr schönster Abschied? Und vielleicht kommen wir nachher bei Tisch darüber ins Gespräch.
Ich weiß, Abschied ist nicht immer schön. Aber vielleicht ist es dann um so wichtiger, ihn gebührend und würdig zu begehen.
Es kann einem nämlich richtig fehlen, wenn man keinen Abschied nimmt. Ich erinnere mich an mein erstes Examen: das Ende meines Studiums, der Beginn der Berufstätigkeit, des Vikariats. Das war eine große Wende, verbunden mit Abschiedsschmerz und Vorfreude, Unsicherheit und Tatendrang. Aber einen richtigen Abschied gab es nicht. In dieser Zeit des Übergangs von einer Lebensphase zur anderen hätte mir ein Ritual, ein Segen gut getan, der hat mir gefehlt. (Es war schön zu sehen, Patrick, dass es so etwas zu Beginn Deines Vikariats im Kloster Loccum gab.)
Und ich denke an neulich, eine Trauerfeier, nur am Grab. Was ich nur selten und in Ausnahmefällen mache. Eine Besucherin sieht die Familie am Grab und die verschlossene Kapelle und macht enttäuscht und wütend kehrt. Als sie mich im Talar sieht kommen, kommt sie doch nochmal mit zurück. Und wir feiern würdig Abschied mit vielem, was dazugehört: Der Bestatter hat die Urne aufgebahrt, mit Blumen geschmückt, wir haben gebetet und Stille gehalten, es gab einen Rückblick und wir haben aus dem Leben erzählt, wir haben nach vorne geschaut und Hoffnung geschöpft, es gab Ritus und Segen. Und es war wichtig.
Ich finde, Abschiede wie Neuanfänge sollte man nicht einfach geschehen lassen, man sollte sie feiern. Auch wenn es traurig ist.
Weil es so wichtige Momente sind. Weil sich etwas verändert. Weil es gut ist, einmal die Zeit anzuhalten und innezuhalten, in sich hineinzuschauen und zu horchen. Den Abschiedsschmerz zuzulassen, und die Freude über Gewesenes dankbar zu genießen.
Das Verrückte ist ja, dass beim Abschied oft beides da ist. Dieser dumpfe Schmerz auf der Brust, der einen nur ganz flach atmen lässt. Und zugleich die Dankbarkeit und Freude über das Gute, das war, Freude, die das Herz schneller schlagen lässt.
Ob Jesus das auch so ging, als er sich umschaut und sagte: Ich habe mich so auf das Essen heute mit euch gefreut? Bestimmt hat er sich erinnert, was er mit jedem einzelnen der Jünger erlebt hat, was jeder ihm bedeutet hat. Und er sah ihre Freude und ihre Angst.
Wissen Sie, ich fand es ja lange komisch, wie ausführlich Lukas erzählt, was es an Vorbereitungen brauchte. Wie Petrus und Johannes auf wundersame Weise den Raum gefunden haben. Und dass es ein großer Saal war, der schön ausgelegt war. Und dann sagt Jesus noch: „Ich habe mich so sehr nach diesem Festessen mit euch gesehnt.“ Ich habe so manches Mal achselzuckend darüber hinweggelesen.
Aber in diesem Jahr lese ich das ganz anders. Ich habe gehört, wie sehr sich manche auf heute Abend gefreut haben und wie wichtig ihnen das Tischabendmahl ist. Es wurde liebevoll und sorgfältig durch viele vorbereitet. Und es ist etwas Besonderes, wir machen das ja nicht alle Tage. Ja, wir haben es 2020 und 2021 sogar gar nicht machen können.
Wir haben uns erinnern lassen, wie das damals war, als Jesus Abschied feierte. Für Jesus und die Jünger war es ein schöner, aber auch ein trauriger, angstvoller Abend. Auch wenn sie, wie derzeit Juden auf der ganzen Welt, Passah – das Fest der Befreiung - gefeiert haben.
Das, liebe Gemeinde, ist der Unterschied der Jünger zu uns heute: Wir feiern zwar kein Passah, wir feiern Jesu Abschiedsmahl, aber wir müssen nicht traurig bleiben. Denn wir kommen von Ostern her. Wir feiern Abendmahl als Ostergemeinde. Wir verlieren nicht unseren Freund oder unseren Herrn. Wir wissen, er kommt. Ostern wartet auf uns.
Nun feiern wir jedes Jahr Gründonnerstag. Es ist wie Passah ein ritualisiertes Feste. Und trotzdem wichtig.
Ich glaube nämlich, wir üben darin Abschied zu nehmen. Wir halten heute Abend inne. Unweigerlich fallen uns Abschiede ein, die die gerade geschehen sind oder schon länger her oder die erst bevorstehen. Vielleicht sprechen wir gleich darüber. Und diese Abschiede machen uns das Herz schwer. Immer noch oder schon jetzt.
Aber es tut gut, sich zu erinnern. Beim Essen. Am schön gedeckten Tisch. Mit Musik und Liedern. In Gemeinschaft. Innezuhalten, sich umzuschauen: wer ist da mit mir, in der Gemeinde unterwegs? Und Christus in unserer Mitte. Und er sieht auch unsere Freude über das Fest und unsere Trauer und Angst.
Und der Friede Gottes, der so viel höher ist als all unser Verstehen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Konfirmationspredigt vom 30.4.2023
„Liebe Kinder, heute sehen wir uns zum letzten Mal!“ (Zitat eines Hamburger Pastors von 1836)
Ehe Sie jetzt etwas Falsches denken, liebe Festgemeinde:
Ich gehe ganz hoffnungsfroh davon aus, dass wir die Jugendlichen durchaus noch öfter sehen werden. Zum Beispiel beim Nachtreffen mit Eis ohne Ende oder beim Gemeindefest oder bei den Teamertreffen.
Die Betonung liegt ganz woanders: „Liebe KINDER, heute sehen wir uns zum letzten Mal“ – wir sehen Euch zum letzten Mal als religionsunmündige KINDER. Verlassen werdet Ihr dieses Gebäude nachher als mündige Gemeindeglieder mit Rechten: z.B. könnt Ihr Paten werden und den Kirchenvorstand nächstes Jahr mitwählen.
In Glaubensdingen seid Ihr den Kinderschuhen entwachsen. - Naja, und wenn ich auf Eure Füße schaue, dann wohl nicht nur in Glaubensdingen...
Wenn ich mir die Fotos anschaue, die ich vor einem Jahr von Euch gemacht habe, dann steht mir deutlich vor Augen, wie sehr Ihr Euch in den 12 Monaten verändert habt.
Bestimmt geht es Ihnen als Eltern, als Patinnen, Paten und Verwandte ähnlich und Sie fragen sich vielleicht: „Wo ist das Kind geblieben, dem ich gerade noch vorgelesen habe?“ „Habe ich mit ihr nicht neulich erst Ball gespielt?“ Gerade heute ist es augenfällig, wie erwachsen Ihr plötzlich seid.
Abschied vom Kindsein. Aufbruch in die Erwachsenenwelt. Das hat viel mit Konfirmation zu tun. Davon erzählt auch eine biblische Geschichte. Eine, die es in sich hat.
Jesus erzählt sie. Es ist die Geschichte vom Vater, der zwei Söhne hat. Und sie könnte ganz genauso von der Mutter handeln. Und statt Söhne könnten es ebenso Töchter sein. Aber im 15. Kapitel des Lukasevangeliums steht sie mit einem Vater und zwei Söhnen.
Es ist der Jüngere von beiden, der eines Tages sagt: „Vater, zahle mir mein Erbe vorzeitig aus. Ich verlasse Euch.“ Und der Vater gibt dem Knaben sein Erbe. Ob erst nach Diskussionen und mit Bauchschmerzen und durchsorgten Nächten – das wissen wir nicht. Vielleicht war nicht genug Platz das damals auf dem Papyrus aufzuschreiben. Aber er tat es. Wahrscheinlich kannte der Vater damals schon den weisen Spruch von den Wurzeln und den Flügeln, Sie wissen schon… Und er wusste: Wenn man Kindern Vertrauen schenkt und sie ziehen lässt, dann hat man eine gute Chance, sie wiederzusehen.
Der Junge macht sein Erbe zu Geld und zieht ins Ausland. Das Nest wird leerer.
Nester oder vielmehr solche Nistkästen habt Ihr mit dem NABU zusammen in Eurer letzten Stunde gebaut. Mit Euch zusammen wollen wir sie noch auf unseren Friedhöfen aufhängen, damit sie Vögeln ein Zuhause bieten. Das wird eine schöne Erinnerung für die Gemeinden an Euren Konfijahrgang sein.
Der Ausgeflogene genießt das Leben in vollen Zügen – jedenfalls bis das Konto leer ist. Und vielleicht wäre das nicht so schlimm gewesen, er hätte dann arbeiten gehen können. Aber just zu der Zeit kommt eine Hungersnot über das ganze Land und macht alles zunichte. So wie zu anderen Zeiten Pandemien. Oder Kriege.
Und plötzlich ist alles anders. Was sicher war, ist plötzlich unsicher. Menschen verlieren ihre Jobs, ihr Erspartes. Lebenspläne werden über den Haufen geworfen. Und in unserer Geschichte heißt es nun: „Auch der Sohn beginnt zu hungern.“ Und er ist obdachlos.
Liebe Konfis, ich muss an den Besuch des Asphalt-Verkäufers denken, letzten Herbst. Erinnert Ihr Euch? Gebannt habt ihr zugehört, als Er aus seinem Leben als ehemals Obdachloser berichtet hat.
Wo wir als Christenmenschen hier in unserer Stadt anderen helfen, haben wir uns angesehen. Denn Diakonie ist ein wichtiger Teil unseres Glaubens.
Liebe Festgemeinde, als ich in meiner Bibel nun in unserer Geschichte weiterlesen wollte, stand auf der nächsten Seite nur ein einziges Wort: VERGEBUNG.
Als eine Kleingruppe von Euch den Predigtpart in Eurem Konfi-Gottesdienst übernommen hat, habt Ihr entschieden, über die Gnade zu predigen. Ich fragte Euch: Was versteht Ihr denn unter Gnade? Und Ihr sagtet: „Gnade - ist Vergebung.“
Dass man einander vergibt, ist Euch wichtig. Und Ihr habt das gelebt. Ich denke an zwei von Euch, die es schwer miteinander hatten, und die dennoch aufeinanderzu gehen konnten und sich versöhnt haben. Also, wenn Eure Gruppe nicht religionsmündig ist, dann weiß ich es auch nicht…
Aber zurück zu unserem nun mittellosen Jüngling aus der Geschichte. Er findet nur einen ziemlich üblen Job: Schweinehüten. Verdienst weit unter Mindestlohn. Es reicht nicht einmal zum Sattessen.
„Da geht der Sohn in sich“, heißt es in meiner Bibel. Und wieder muss ich an Euch denken.
Denn Ihr seid auch ins Innere gegangen, in Euer Inneres und in das einer Spirale an Bibelversen. Die haben wir auf der Freizeit in Hanstedt auf dem Boden ausgelegt. Spruch für Spruch seid Ihr mit Teelichtern den Weg nach innen gelaufen, wart ganz still und konzentriert dabei. Denn Ihr wusstet: Hier entscheide ich, was mich mein weiteres Leben lang begleitet. Was Licht auf dunklem Weg oder ein Seil beim Klettern sein kann. Und jede hat ihren, jeder hat seinen Vers gefunden, den wir nachher auch verlesen werden.
Der Sohn geht also in sich und denkt: „Alle Arbeiter meines Vater haben genug zu essen. Ich will zu meinem Vater zurückgehen und zu ihm sagen: Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden. Aber lass mich bei Dir arbeiten, damit ich nicht verhungere.“ So macht er sich auf den Weg.
Als er zuhause ankommt, sieht sein Vater ihn schon von weitem, läuft ihm entgegen, fällt ihm um den Hals und küsst ihn, schreibt Lukas. Und natürlich tut es die Mutter ebenso. Und ausnahmsweise ist es dem Sprössling nicht peinlich, dass seine Eltern ihn auf offener Straße vor den Nachbarn umarmen. Wobei, gut, das steht jetzt nicht in der Bibel.
Aber dort steht, dass die Eltern schöne Kleidung holen und Schmuck für den verloren Geglaubten. Und sie lassen ein großes Festmahl auftischen.
Und bei der Feier schauen die Eltern vermutlich ihr Kind an, das nun kein Kind mehr ist, und staunen über den Erwachsengewordenen. Und vermutlich wird es hier in Nienburg heute Nachmittag in ganz vielen Häusern und Restaurants ähnliche Szenen geben: des Feierns, des Staunens und ein Stück weit des Abschieds von der Kindheit.
Und eigentlich wäre das jetzt ein schönes Ende, auch für eine Predigt.
Aber die Geschichte, die Jesus hier erzählt, geht noch ein bisschen weiter und zeigt: Ohne Konflikt geht es nicht ab, wenn Kinder groß und selbstständig werden. Und überhaupt, da gibt es doch auch noch die Geschwister. Wer hat denkt an die?
Der Evangelist Lukas hat sie im Blick und erzählt vom älteren Bruder.
Der ist neidisch und hat keine Lust mitzufeiern. So ein Trara haben seine Eltern um ihn noch nie gemacht!
Und wer von Ihnen ebenfalls mehrere Kinder hat, der wird diesen Geschwisterneid kennen. „Warum darf der länger aufbleiben als ich?“ „Ich muss immer helfen, und sie nicht. Das ist unfair!“ (Das vermutlich meist ausgesprochene Wort von Kindern zwischen 10 und 14.)
Doch hier geht es um mehr. Denn auch für Geschwister ist es nicht leicht, wenn der Bruder oder die Schwester plötzlich flügge wird. Und auch wenn man heute nicht mehr direkt nach der Konfirmation mit der Lehre beginnt, so steigt doch sichtbar das Erwachsen- und Unabhängigwerden am Horizont auf. Konstellationen verändern sich. „Liebe Kinder, heute sehen wir uns zum letzten Mal“. Auch wenn sich dieses Heute noch etwas hinzieht.
Und, liebe Festgemeinde, was für die familiäre Seite der Geschichte gilt, trifft auch für die kirchliche zu: Ihr Konfis habt gelernt, wie wir hier in St. Martin und in St. Michael unseren Glauben leben. Ihr habt Praktika in den Gemeinden gemacht.
Doch in Zukunft geht ihr im Blick auf den Glauben Eure eigenen Wege. Die Rollen und Konstellationen ändern sich auch hier. Einige werden Teamer sein. Andere werden hier und da bei Freizeiten und Aktionen dabei sein. Manche werden auch eine Kirchenpause machen. All das ist ab jetzt Eure Entscheidung.
Aber gerne bleibt St. Martin ein zweites Zuhause für Euch, das auf Euch wartet. Wo Glaubensgeschwister sich treffen. Aber das Wichtigste ist, dass Ihr wisst: Ihr könnt jeder Zeit zu Gott kommen. Er empfängt Euch mit offenen Armen wie Eltern es tun und mehr noch. Egal in welcher Situation Ihr seid.
Ihr bleibt Gotteskinder. Egal wie erwachsen Ihr werdet. Immer.
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott,
unserm Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde,
haben Sie gestern auch die Krönung des englischen Königs Charles III. im Fernsehen live verfolgt? Eine sehr besondere, seltene Zeremonie, die ja aus drei Akten bestand: der Salbung, des Eides und der Krönung selbst.
Doch dem Großereignis waren Proteste gegen die Monarchie vorausgegangen. „Not my king“ war der Slogan der Gegner. Nicht mein König.
„Salbung zum König“, ist die Überschrift des biblischen Kapitels, aus dem der für heute vorgeschriebene Text für die Predigt steht. David wird im Voraus vom Propheten Samuel zum König gesalbt, nicht gekrönt. Denn es gibt noch einen aktuellen König: Saul. König Saul allerdings hat ein Problem.
Ich lese aus dem Ersten Testament nach der Guten Nachricht Bibel, aus dem ersten Samuelbuch, Kapitel 16, was dort gleich nach der Salbung Davids geschah:
„Gott hatte Saul einen bösen Geist geschickt, der ihn oft quälte. Da sagten seine Leute zu Saul: Du weißt, dass ein böser Geist dich immer wieder befällt. Sollen wir uns nicht nach einem Mann umsehen, der Harfe spielen kann?“ „Dann kannst du dir etwas vorspielen lassen,
das wird dich aufmuntern.“
Saul stimmte dem zu und sie empfahlen ihm David:
„Er versteht zur rechten Zeit das rechte Wort zu sagen - und sieht sehr gut aus. Gott steht ihm bei.“ „Da sandte Saul Boten“ und ließ David an den Hof holen. So trat David in Sauls Dienst. Und der König gewann ihn lieb.“
„Immer wenn der böse Geist über Saul kam, griff David zur Harfe und begann darauf zu spielen. Dann wurde es Saul leichter ums Herz,
er fühlte sich wieder wohler und der böse Geist verließ ihn.“
Liebe Gemeinde, ich erinnere mich an meine ersten Versuche, Gitarre spielen zu lernen während meines Studiums an der Kirchlichen Hochschule. Ich war nicht sehr erfolgreich darin, da half auch häufiges Üben hinter verschlossener Tür nichts. Not my Instrument.
Aber einmal war es mir doch gewissermaßen zu etwas nütze. Ich erinnere mich an meine Kommilitonen Matthias. Er klopfte eines Tages an meine Zimmertür im Wohnheim. Ich übte gerade meine Griffe und sang dazu die am einfachsten zu begleitenden geistlichen Lieder, die ich finden konnte. Wir waren in derselben Lerngruppe. Doch so verheult und aufgelöst, wie Matthias war, sah man, dass er nicht zum Lernen vorbeikam. Er hatte Liebeskummer. Matthias war verlobt, und die Ankündigung seiner Liebsten, mit ihm Schluss zu machen, zog ihm den Boden unter den Füßen weg.
Er setze sich zu mir und redete sich - von Schniefen unterbrochen - seinen Kummer von der Seele. Und ich weiß noch, dass ich mich zwar über sein Vertrauen freute. Aber auch, dass ich recht hilflos war und verzweifelt nach tröstlichen Worten suchte – und keine fand. Was wäre hier das rechte Wort gewesen?
David wäre vermutlich etwas Hilfreiches eingefallen. Schließlich sagte man ihm ja nach, er würde zur rechten Zeit die passenden Sätze finden. Matthias jedenfalls war irgendwann fertig mit Erzählen und schwieg. Wir schwiegen eine ganze Weile gemeinsam.
Dann fragte er mich, was ich da spielte. Ich zeigte ihm das Lied. Er sagte, das kenne er nicht, und fragte, wie das ginge. Ich sang es ihm vor, begleitet von den drei Akkorden, die ich konnte. Er fiel schnell ein, und wir sangen alle Strophen, und dann das Lied auf der Seite daneben, weil er sagte, DAS würde er kennen und fände er auch gut. Und dann noch etliche weitere. Und sein Schniefen zwischendurch wurde weniger und die Stimme fester und heller. Und er richtete sich äußerlich wie innerlich immer mehr auf.
Das weiß ich noch, weil ich mich über die Gitarre und die Noten beugte und nach einigen Liedern erst aufsah und die Veränderung an Matthias so richtig wahrnahm. Damals wurde mir einmal mehr bewusst, wie heilsam Singen ist.
Ja, manchmal liebe Gemeinde, ist Singen sogar heilend. Die Tage erzählte mir jemand, dass ihm das Singen im Chor sogar geholfen habe, nicht mehr zu stottern.
Studien belegen den Effekt, den Singen auf die Seele hat. Auf der Website der AOK Krankenkasse, können Sie es nachlesen: Singen steigert die Immunabwehr, stärkt das Herz-Kreislauf-System, intensiviert die Atmung, wirkt entspannend, löst Ängste und baut Stress ab. Wenn das nicht schon allein Gründe genug sind, in einem Chor zu singen, weiß ich es auch nicht! Und von der Gemeinschaft der Singenden war dabei noch gar nicht die Rede.
Ich bin sicher, das meiste davon trifft auch auf Musizieren und sogar auf das bloße Hören von Musik zu: die entspannende und angstlösende Wirkung und der Stressabbau gewiss.
König Saul, der vermutlich an Depressionen litt, könnte es bestätigen: Wir erfahren nicht, ob und wie David Saul gegenüber zur rechten Zeit das rechte Wort zu reden wusste. Aber Davids Harfenspiel half dem König, wann immer ihn sein böser Geist überkam. Man geht davon aus, dass mit dem bösen Geist Depressionen gemeint waren, unter denen Saul litt.
Nun ist David beileibe nicht der einzige – spätere - König in der Geschichte, der ein Musikinstrument spielte. Aber kein anderer König wurde so oft auf Bildern, auf Orgelprospekten und als Statue mit seinem Instrument abgebildet wie er. Auch wenn es vermutlich eher eine Leier als eine Harfe war. Auch direkt über der Kanzel meiner ersten Gemeinde ist David mit seinem Instrument zu sehen, rechts und links flankiert von Trompetenengeln. Die Harfe oder Leier ist sein Markenzeichen.
Und das Markenzeichen von König Charles III., was macht ihn eigentlich aus? Er ist für sein Faible für den Umweltschutz und eine gesunde Ernährung bekannt. Um das zu erfahren, musste ich ehrlich gesagt einmal die Gala lesen… Dort erfuhr ich außerdem: Er gibt den Eichhörnchen auf seinem Landsitz Highgrove Namen und erkennt sie. Das finde ich nicht zu verachten.
Aber beeindruckender finde ich dann doch Davids Eigenschaft, wie es in 1. Sam 16,18 heißt: dass er „versteht“ „zur rechten Zeit das rechte Wort zu sagen“.
Das wünsche ich nicht nur dem frisch gekrönten König Charles III. in seinem verantwortungsvollen Job. Darum bete ich auch für Dich, liebe Annette, bei Deiner Aufgabe als Schulseelsorgerin. Dass Du außerdem jede und jeden im Blick behältst, erkennst und beim Namen nennen kannst.
Und das erbitte ich für jede von uns von Gott: Wenn wir Menschen begegnen, die verzweifelt sind, denen schlimme Ereignisse den Boden unter den Füßen wegzuziehen drohen, - dass wir die richtigen Worte finden: Worte des Trostes und des Glaubens. Worte, die von dem König über allen Königen zeugen. Worte über den, der Himmel und Erde gemacht hat. Worte über den Gott, der uns einen Geist der Kraft und der Liebe der Besonnenheit gegeben hat. Worte, die auch denen etwas sagen und helfen können, die eigentlich von sich sagen: „Jesus? Not my king.“
Ach, und David mit seiner Harfe oder Leier zeigt es uns: Manchmal müssen es gar keine Worte sein. Da hilft das gemeinsame Schweigen, einfach da zu sein, für- und miteinander zu singen und zu musizieren, um Trost zu finden. Selbst mit nur drei Akkorden.
Und der Friede Gottes, der so viel höher ist als all unsre Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
24. September 2019. Greta Thunberg hält ihre berühmt gewordene Wutrede vor den Vereinten Nationen. „How dare you“ – „wie könnt ihr es wagen“, ruft sie. "Seit mehr als 30 Jahren ist die Wissenschaft glasklar und ihr schaut weiterhin weg. In weniger als achteinhalb Jahren ist unser verbleibendes CO2-Budget aufgebracht. Ihr sagt, dass ihr die Dringlichkeit versteht, aber ihr handelt immer noch nicht", wirft die junge Schwedin den Regierungsvertretern vor.
Was wäre gewesen, wenn die versammelten Politiker damals ihr und unser aller Versagen eingestanden hätten. Wenn sie sofort einschneidende Maßnahmen in Angriff genommen und Gesetze erlassen hätten, die jede Bürgerin zum radikalen Schutz des Klimas und zum Schutz der Artenvielfalt verpflichtet hätten?
Aber so war es nicht. Warnungen wurden in den Wind geschlagen. Gehofft, dass es doch nicht so schlimm kommt. Und dann tat man - erst einmal nichts. Und viel ist nach wie vor nicht geschehen, jedenfalls nicht, wenn man die Zahlen und die Folgen der Erderwärmung anschaut.
Von missachteten Warnungen können auch so manche biblischen Propheten - von Mose bis Johannes dem Täufer - ein Lied singen. Doch ein einziges Mal kam alles anders.
Der Prophet Jona hat zunächst überhaupt keine Lust und sieht keinen Sinn darin, die ihm von Gott gestellte Aufgabe auszuführen. Er soll den Spaßverderber und Unheilspropheten spielen. Er erhält den Auftrag, die Menschen der riesigen assyrischen Stadt Ninive aufzufordern, sich doch bitte von jetzt auf gleich nicht mehr so zerstörerisch und gewalttätig zu verhalten. Und das soll er als Ausländer ihnen sagen, als Anhänger einer anderen Religion. Ach ja, und ihnen damit drohen, dass sie, wenn sie so weiterleben wie bisher, sein Gott kurzen Prozess mit ihnen machen wird. Da braucht man kein ausgesprochener Pessimist zu sein, um sich auszumalen, dass diese Mission nur schief gehen kann...
Also sagt Jona: „Nein, mach ich nicht.“ Gott: „Doch, du gehst.“ Darauf flieht Jona, nimmt ein Schiff in die entgegengesetzte Richtung. Es kommt ein Sturm auf. Um den Rest der Besatzung zu retten, lässt Jona sich sich den Fischen zum Fraß vorwerfen. Das hilft, der Sturm legt sich. Klar, dahinter steckt Gott. Und weil Gott unglaublich hartnäckig sein kann, schickt er einen sehr großen Fisch, der Jona im Ganzen verschluckt, ohne zu kauen. Und Jona überlebt. Nach drei Tagen an Land gespuckt, sagt Jona: „Na gut“ und geht jetzt doch nach Ninive. So die Kurzfassung des bekannteren Teils der Jonageschichte. Weniger bekannt ist, was dann kommt:
Er verkündet den Einwohnern, dass sie noch 40 Tage zu leben haben, ehe Gott die Stadt zerstört. Sie hätten da aber noch eine winzige Chance…
Liebe Gemeinde, das kann ja keinen Erfolg haben.
In unseren Breiten heutzutage glauben nur noch 38% der Menschen an Gott. Das ergab der Religionsmonitor 2023, eine repräsentative Umfrage, deren Ergebnis im Dezember 2022 veröffentlicht wurde. Der Wissenschaft vertrauen 62% der deutschen Bevölkerung. So das Wissenschaftsbarometer, dessen Resultat im selben Monat vorgestellt wurde. Preisfrage: Welche Chance hätte Jona mit seiner Bußpredigt und der Drohung der Vernichtung durch Gott in einer Stadt wie sagen wir Salzgitter oder Heidelberg, beide an die 120.000 Einwohner, heutzutage gehabt?
Gut, Ninive war damals. Das ist kaum zu vergleichen. Wissenschaft hatte nicht denselben Stellenwert. Aber es lag im assyrischen Reich. Und die Assyrer glaubten nicht an Jonas Gott, sie waren keine Juden. Seine Chancen waren noch sehr viel geringer als sie heute wären.
Doch das Wunder geschieht. Die Einwohner glauben ihm. Zu erklären ist das nicht. Sie kleiden sich in Sack und Asche. Selbst der König.
Liebe Gemeinde, Jona hätte an dem Punkt als größter Prophet aller Zeiten in seine Heimatstadt Gat-Hepher nördlich von Nazareth heimkehren können. Welch eine Wahnsinnsgeschichte! Er hätte seine Memoiren schreiben können. Welch ein Erfolg! Er wäre der Held gewesen. Er hätte Vortragsreisen organisieren, Propheten-Workshops abhalten und an seinem Haus eine Hinweistafel für Touristen anbringen lassen können: "Hier wohnt der berühmte Prophet Jona, der eine Großstadt vor dem Untergang rettete." Er hätte sich freuen können!
Aber was macht er stattdessen? Das erzählt uns der Predigttext, den die Perikopenordnung für heute vorsieht. Ich lese den letzten Vers des 3. Kapitels und die elf Verse des 4. Kapitel des Jonabuches aus dem Ersten Testament.
10 Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat’s nicht.
1 Das aber verdross Jona sehr, und er ward zornig 2 und betete zum HERRN und sprach: Ach, HERR, das ist’s ja, was ich dachte, als ich noch in meinem Lande war. Deshalb wollte ich ja nach Tarsis fliehen; denn ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen. 3 So nimm nun, HERR, meine Seele von mir; denn ich möchte lieber tot sein als leben. 4 Aber der HERR sprach: Meinst du, dass du mit Recht zürnst? 5 Und Jona ging zur Stadt hinaus und ließ sich östlich der Stadt nieder und machte sich dort eine Hütte; darunter setzte er sich in den Schatten, bis er sähe, was der Stadt widerfahren würde. 6 Gott der HERR aber ließ einen Rizinus wachsen; der wuchs über Jona, dass er Schatten gab seinem Haupt und ihn errettete von seinem Übel. Und Jona freute sich sehr über den Rizinus. 7 Aber am Morgen, als die Morgenröte anbrach, ließ Gott einen Wurm kommen; der stach den Rizinus,
8 Als aber die Sonne aufgegangen war, ließ Gott einen heißen Ostwind kommen, und die Sonne stach Jona auf den Kopf, dass er matt wurde. Da wünschte er sich den Tod und sprach: Ich möchte lieber tot sein als leben. 9 Da sprach Gott zu Jona: Meinst du, dass du mit Recht zürnst um des Rizinus willen? Und er sprach: Mit Recht zürne ich bis an den Tod. 10 Und der HERR sprach: Dich jammert der Rizinus, um den du dich nicht gemüht hast, hast ihn auch nicht aufgezogen, der in einer Nacht ward und in einer Nacht verdarb, 11 und mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere?
Liebe Gemeinde, Jona beschwert sich bitterlich. Kann doch nicht wahr sein, dass die aus Ninive jetzt nicht ihre gerechte Strafe bekommen. Jona kann nicht glauben, dass Gott sich von dem bisschen Sack und Asche der Niniveer blenden lässt. Das meinen die doch nicht ernst.
Und er sucht sich einen guten Platz etwas außerhalb der Stadt, wo er alles gut im Blick hat. Ich sehe ihn da in seiner improvisierten Hütte quasi wie im Kino sitzen, die Popcorntüte auf dem Schoß und super: Schatten wächst ihm auch noch durch die schnellwachsende Rizinusstaude. Das Spektakel kann losgehen.
Jona vertraut auf einen gerechten Gott. Der diejenigen straft, die anderen Gewalt antun, die rücksichtslos sind, boshaft. Bloß, das mit der Gerechtigkeit Gottes, das ist so eine Sache…
„Ich wusste es doch,“ sagt Jona, und es ist als Vorwurf gemeint: „dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist“. Das Zitat begegnet übrigens öfter in den Beschreibungen Gottes im Ersten Testament. Wenn auch in der Regel nicht als Anklage. Und zum Gleichnis des liebenden Vaters, von dem wir in der Lesung gehört haben, passt es ja auch. Gnädig und barmherzig ist Gott, und das ist eben was anderes als gerecht. Aber gerecht ist Gott ja auch.
Beide Geschichten, Lukas 15 und Jona 4 handeln genau davon, von Gottes Gerechtigkeit und Gnade und wie schwer die beiden zu verbinden sind und wie eindeutig sie menschliche Logiken sprengen.
Auch im rabbinischen Judentum wird dieses Problem reflektiert. Gott wird beschrieben als der, dem zwei Eigenschaften zukommen: die Eigenschaft des Rechts, middat ha-din, und die Eigenschaft des Erbarmens, middat ha-rachamim. Und es gibt ihn nicht nur mit der einen Eigenschaft, sondern immer mit beiden. Denn die Welt hätte keinen Bestand, wenn Gott nur gerecht oder wenn er nur gnädig wäre.
Wäre er nur immer gnädig: Wieso sollte ich ihn fürchten, wieso mich bemühen, Gutes zu tun und mich fair zu verhalten?
Wäre er nur gerecht: Dann sähen auch wir selbst schnell alt aus. Seine Barmherzigkeit kommt jeder von uns zugute. Weil keine es schafft, Gottes Willen stets zu erfüllen. Oder wie Paulus es sagt: „Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer.“ Wir sind aber gerecht allein aus Gottes Gnade. Und als Christen „reden wir von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus“. Auch Paulus.
Und übrigens lässt nicht nur Gott „Gnade vor Recht“ walten. Auch unser Rechtssystem setzt die „gerechte Strafe“ schon mal aus oder begnadigt. Wenn auch weniger aus Barmherzigkeit...
Liebe Gemeinde, ich mag diesen Teil der Jonageschichte, Gott entlarvt Jonas Selbstgerechtigkeit: Dass der schattenspendende Strauch eingeht, das findet Jona unfair. Mit den 120.000 Menschen in Ninive dagegen hat er kein Mitleid. Ihnen weiß er sich moralisch so überlegen.
Und zugleich beunruhigt mich diese Erzählung. Sie hält ja auch mir und uns Spiegel vor: Wir beklagen den Verlust oder auch nur drohenden Verlustes so manchen Privilegs.
Ein Beispiel: Der Landkreis Nienburg hat eine Allgemeinverfügung zur Einschränkung der Bewässerung von privaten und öffentlichen Grünflächen erlassen. Aufgrund des anhaltend niedrigen Grundwasserspiegels darf ab einer Temperatur von 24 Grad zwischen 11 und 19 Uhr kein Sprinkler angeschaltet werden.
Sich darüber aufzuregen und sich womöglich zugleich ungerührt über die Flüchtlinge zu beschweren, die vor Dürre und zerstörerischen Überschwemmungen nach Europa fliehen - das ist schon ziemlich jona-esk!
Und ich stelle mir vor, Gott schaut uns an und schüttelt den Kopf und dann fragt er: „Ernsthaft?“ Oder mit den Worten, die in Jona 4 gleich zweimal vorkommen:
„Und Gott sprach: Meinst du, dass du mit Recht zürnst?“
Lalalaaaala lalalalalaa – ja, danke auch für den Ohrwurm! Jetzt werde ich dieses Lied nicht mehr los!
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Schulgemeinde,
ein Abschieds-Lied habt Ihr im Chor gesungen! Oder eher: ein Wiedersehens-Lied:
"It’s been a long day without you my friend. And I’ll tell you all about it when I see you again. We’ve come a long way from where we began. Oh I’ll tell you all about it when I see you again."
Das Lied ist so gut, ich war kurz versucht, meine Predigt zu rappen. – Aber keine Sorge, ich verschone Euch. Rappen gehört nicht zu meinen Stärken.
Ich musste bei dem Lied und angesichts Eures Abschiedes, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, an mein erstes Klassentreffen nach dem Abitur denken. Es fand nach 20 Jahren statt. Und ich hatte keinen meiner ehemaligen Mitschüler in der Zwischenzeit wiedergesehen.
Und wisst Ihr, was irre war? Die Klassenkameradinnen hatten sich zwar total verändert. - Naja, einige auch irgendwie überhaupt nicht! Die sahen noch so aus wie früher und die verhielten sich auch noch so! - Aber sie lebten jetzt alle ein sehr anderes Leben, z.T. weit weg. Waren im Beruf, hatten Familie, trugen Verantwortung.
Aber die Zuneigung, die freundschaftlichen Gefühle, dieses Auf-derselben-Wellenlänge-Sein – das war mit denen sofort wieder da, mit denen man sich damals auch super verstanden hat. Ich konnte auch nach zwei Jahrzehnten mit alten Freundinnen in Erinnerungen abtauchen und über die damaligen Lehrer ablästern – und für andere weiter schwärmen. Und auch andere Gefühle von damals waren wieder sofort da: Das Misstrauen dem einen gegenüber, das nicht so richtig ernst nehmen können dem anderen, - die Distanz und die Nähe, das Vertrauen und die Abneigung. Alles wie früher! Sofort wieder da, als hätte es die Zeit dazwischen nicht gegeben. Manches bleibt, auch wenn die Gesichter faltiger werden.
Aber vielleicht dauert es bei Euch nicht so lange, bis Ihr Euch wiederseht. Vielleicht kommt Ihr mal zum Altstadtfest nach Nienburg zurück, für die einen noch Semesterferien, für andere zumindest Wochenende. Wie schön, wenn man dann an den Stand von ASS und St. Martin hier vor der Kirche kommt und dort erinnert sich jemand an dich: Remember me, when I am gone.
Vermutlich wisst Ihr das: Der Soundtrack „See you again“ zum Film „Furious 7“ ist auch eine Hommage gewesen für einen, der viel zu früh verstorben ist, für Paul Walker. Und es steckt in den Liedzeilen die Hoffnung, ihn einst wiederzusehen. Am anderen Ende. Jenseits von allem, was war und was ist.
Es gibt am Ende des Films eine Szene am Meer, in der Paul Walker glücklich auf die am Strand spielende Familie zurückschaut und sich dann umdreht und geht. Da geht es auch ganz viel um die Bedeutung von Zuhause und um Abschied.
Und ich muss an unseren Psalm denken, Psalm 139. Wir haben Verse daraus in der Lesung vorhin gehört: „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand, Gott, mich führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein –, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag.“ Also: Nichts kann mich schrecken, denn Gott hält mich.
Mich würde interessieren, wie es Euch heute geht: Wer von Euch kann es gar nicht erwarten, loszugehen in ein neues Leben. Lieber heute als morgen! Hand hoch! (Vier melden sich, davon eine Person deutlich hinter der Reihe der Schülerinnen und Schüler)
Äh, nee, ich meinte jetzt nur die Abiturientinnen und Abiturienten! Alle anderen bleiben hier?
Segen mit Euch, die Ihr es kaum erwarten könnt!
Aber vielen von Euch scheint es Angst zu machen. Oder es erzeugt so ein Ziehen im Herz, Trauer, dass die gute Zeit in der Schule vorbei ist, dass Ihr den einen oder die andere vielleicht nicht mehr sehen werdet.
Dann erst recht: Segen mit Euch!
Denn ob Ihr wollt oder nicht, ob Ihr geht oder bleibt: Ihr trennt Euch – von Eurer Kindheit. Ihr verlasst – die Geborgenheit Eurer Heimat und Familie und der Freunde, wo man alles kennt und alles seinen vertrauten Gang geht, vorhersagbar, einschätzbar. Ihr macht eine Trennung durch.
Und nicht nur Ihr, Eure Mütter und Väter, Eure Geschwistern und Großeltern ebenso. Und auch wenn es wahnsinnig schwerfällt: Das ist gut so. Das ist richtig. Das war schließlich das Ziel vom ganzen Großziehen: dass Ihr erwachsen und eigenständig werdet.
Wie gut zu wissen: Da ist jemand, der verlässt Euch nicht. Die-der versteht eure Gedanken von ferne, wie ein guter Freund, eine gute Freundin. Gott geht immer mit. Trennt sich nie von Euch. „Ich gehe oder liege, so bist du um mich“ - selbst „am äußersten Meer“ wird Gottes „Hand Dich führen“ und seine „Rechte Dich halten“.
Jetzt würde ich Euch am liebsten Eure Handys abnehmen. Ich würde jedem und jeder eine App runterladen: nämlich die Bibel. Damit Ihr die immer dabeihabt. Denn die ist genau für solche Leute wie Euch geschrieben worden: für Menschen, die auszogen und ausziehen werden. Nicht nur aus Ägypten. Sondern auch aus Nienburg. (Ah einige signalisieren, sie haben sie schon. Reli-Leitsungskurs... Alles klar, sehr gut!)
52mal heißt es in der Bibel „Fürchtet Euch nicht“, „fürchte dich nicht“, „vertrau auf Gott und hab keine Angst“. Einmal für jede Woche. Also nimm deine Bibel mit. Und lass dich daran einmal die Woche erinnern, dass Gott zu Dir sagt: „Fürchte dich nicht. Ich bin mit dir! Weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.“ Jes 41,10
Denn als Christin und Christ hast du mit Christus schon immer deinen besten Freund mit dabei. Du bist Deinen Ängsten nicht ausgeliefert. Die haben nicht das letzte Wort über Dich. Benenne sie, banne sie: Sag deinem Gott: „Ich habe Angst!“ Und sag deiner Angst: „Ich - habe Gott.“
Sag deinem Gott: „Ich habe Angst!“ Und sag deiner Angst: „Ich - habe Gott.“
Du hast einen Freund, eine Liebe, die stärker ist.
Kennt Ihr das Video zu dem Song von Khalifa? Man sieht erst kurz das Meer. Dann eine Straße, die der Sänger alleine entlanggeht.
Lalalalaala lalalalalaa… "It’s been a long day without you my friend. And I’ll tell you all about it when I see you again. We’ve come a long way from where we began. Oh I’ll tell you all about it when I see you again."
"And what’s small turned to a friendship, a friendship turned to a bond. And that bond will never be broken, the love will never get lost. The love will never get lost." Amen.
Liebe Gemeinde,
wir wollen sie nicht haben, ja wir behaupten sogar oft, wir hätten keine. Und doch pflegen wir sie unaufhörlich. Es ist unangenehm zuzugeben, dass man welche hat. Aber sie sind menschlich und sogar notwendig.
Sie helfen uns Ordnung zu schaffen und sparen Zeit. Wo sie sind, werden wir sie kaum noch los. Ja, wir vererben sie sogar zum Teil. Aber das macht sie leider nicht weniger unfair!
Nein, es geht nicht um Läuse. Es geht um: Vorurteile. Oder im Wissenschaftssprech: um „Implizite Assoziationen“. Das klingt schon neutraler. Denn es gibt negative und positive Vorurteile, also sozusagen: Vorschusslorbeeren. Aber wer „Vorurteil“ sagt, verwendet das Wort fast immer negativ. Wir haben also auch dem Vorurteil gegenüber ein Vorurteil…
Falls jemand von Ihnen sich fragt: Habe ich aufgeklärter Mensch wirklich Vorurteile? Werde ich anderen manchmal nur aufgrund von haltlosen Vermutungen nicht gerecht? Immerhin denken 3% der Deutschen, sie hätten keine. 25% sind sich keiner bewusst. Dann empfehle ich auf der Website der Harvard Universität einen der Tests zu machen, die dort kostenfrei zu verschiedenen Themen angeboten werden. Es gibt auch eine deutsche Ausgabe. Einfach über eine Suchmaschine suchen.
Heftige Vorbehalte, und zwar negative, hatte nachweislich auch der Pharisäer Simon, und zwar gegenüber Frauen einer bestimmten Berufsgruppe. Und damit dürfte er bis heute nicht alleinstehen. Davon erzählt unser Predigttext, und er erzählt auch, wie Jesus darauf reagiert.
Ich lese aus dem Lukasevangelium, dem 7. Kapitel die Verse 36 bis 50.
36Es bat ihn aber einer der Pharisäer, mit ihm zu essen. Und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch.
37Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Alabastergefäß mit Salböl 38und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu netzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit dem Salböl.
39Da aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin.
40Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es! 41Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. 42Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er’s beiden. Wer von ihnen wird ihn mehr lieben? 43Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er mehr geschenkt hat.
Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt.
44Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen genetzt und mit ihren Haaren getrocknet. 45Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. 46Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. 47Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.
48 Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben. 49Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch Sünden vergibt?
50Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!
Eine „Sünderin“ nennt der Evangelist die Frau, die hier namenlos bleibt. Doch ist sie offensichtlich dem Gastgeber und den Gästen bekannt. Es handelt sich um eine Prostituierte, davon ist auszugehen, auch wenn sie hier nur „Sünderin“ genannt wird. Mehr erfahren wir von ihr nicht. Nichts über die Gründe, warum sie als solche arbeitet. Vielleicht die pure Not? Nichts über ihr sonstiges Leben.
Auch welche Vorurteile genau der Pharisäer Simon ihr gegenüber hat, wird nicht gesagt. Aber wir brauchen uns nicht über ihn zu erheben. Jedenfalls geht das hier für ihn gar nicht - das, was sie in seinem Haus tut: weinen, küssen und salben. Vermutlich auch schon nicht, dass sie es geschafft hat, überhaupt hereinzukommen. Hat man am Eingang gedacht, sie gehöre zum Personal?!
Jedenfalls stört sie Simon. Er hatte sich das Essen mit Jesus anders vorgestellt: Eine gepflegte Unterhaltung, ein bisschen theologische Provokation, tiefgehende Diskussionen mit dem Promi-Gast. Und bestimmt, dass ihm hinterher beim Abschied seine Gäste auf die Schulter klopfen und für den gelungenen Abend danken.
Warum auch nicht, da spricht ja nichts dagegen. Aber dann - kommt sie herein! Weint, küsst und salbt. Ganz unerwartet. Sie kommt von hinten, keiner sieht sie kommen, niemand kann es rechtzeitig verhindern.
Liebe Gemeinde, ich schätze, solche Störungen kennen Sie auch.
Sie haben z.B. eine Party geplant, alles sollte perfekt sein. Doch dann benimmt sich ein Gast total daneben. Also an die peinliche Rede einer Tante bei meiner Hochzeit erinnere ich mich bis heute…
Ihr freut Euch auf ein Treffen mit Freunden. Und dann ist da einer, der redet unaufhörlich nur von sich. Egal, welches neue Thema Ihr anschneidet, er schafft es sofort wieder, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich, ich, ich. Das nervt doch total.
Was tun? Wie gehen Sie und wie geht Ihr Jugendlichen mit solchen Störern, die einem alles kaputt machen, um?
Der Gastgeber in unserer Geschichte ärgert sich sehr. Und Simon denkt: „Wäre Jesus ein Prophet, dann wüsste er doch, was das für eine Frau ist und würde sie wegschicken.“
Nun, Jesus ist immerhin Prophet genug, um zu merken, was Simon gerade denkt. Er weiß sehr wohl, „was das für eine ist“:
Nämlich eine, die sich traut, inmitten der Männergesellschaft Jesus ihre Liebe unmittelbar und emotional zu zeigen. Überschwänglich, leidenschaftlich.
Eine Frau, der Jesus so viel wert ist, dass sie viel Geld für Salböl ausgegeben hat, um ihm etwas Gutes zu tun. Großzügig ist sie.
Eine Frau, die an ihn glaubt. Sie schenkt ihm ihr ganzes Vertrauen.
Und ja, dass sie eine „Sünderin“ ist, weiß er auch. Von dem gesellschaftlichen Urteil, dass Prostituierte Sünderinnen sind, ist auch er nicht frei. Was mich, ehrlich gesagt, irritiert. Aber er lebt in den Normen und Wertvorstellungen seiner Zeit. Und doch bricht er sie immer wieder auf und hinterfragt sie. Auch hier. Jesus sieht den Menschen jenseits aller Vorurteile. Und darauf kommt es an!
Ich kann mir vorstellen: Im nachhinein empört Simon wohl weniger das, was die Frau tut. Viel ärgerlicher ist das, was Jesus dann zu ihm sagt, zumal wenn andere es vielleicht mithören. Denn typisch Jesus: Er macht die Situation zu einem Lehrstück. Er will, dass Simon die Frau anders ansieht: jenseits ihres Gewerbes und jenseits einer Unterbrechung des gepflegten akademischen Austausches unter Männern.
Jesus lobt sie vor Simon. Er stellt sie, die Sünderin, über ihn, den rechtschaffenen Bürger und Hausherrn! Jesus sagt sinngemäß:
„Naja, Simon, eigentlich ist die Frau besser als Du! Sie hat mir die Füße gesalbt, während du mir nicht einmal Wasser zum Abwaschen des Staubes gegeben hast. Das täte man als guter Gastgeber durchaus. Sie küsst mir ständig die Füße, Du mich nicht einmal zur Begrüßung auf die Wange.“
Auf die Sündenbilanz kommt es Jesus nicht an. Ihm ist nicht der lieber, der weniger Schuld auf sich geladen hat. Er hält keinen Abstand zu der Frau, von der sich alle peinlich berührt abwenden. Er sieht sie, ihre Liebe und ihre Einsamkeit, ihr übervolles Herz und ihre Tränen. Was sie ihm sagt, ohne zu sprechen, indem sie weint, küsst und salbt.
Und dann erklärt er alle Urteile über sie für nichtig. Er spricht ihr Vergebung zu, wie nur er es kann. Damit richtet er sie auf, macht sie groß, stellt sie auf eine Stufe – nein, höher als alle Anwesenden. Holt sie in die Mitte der Gesellschaft. Denn sie ist nun keine Sünderin mehr. Sie ist nicht das, was alle von ihr denken. Sie ist eine ganz andere. Sie ist sie selbst. Er macht sie frei von allen Stigmata und aller Verachtung.
Denn sie hat geliebt. Verschwenderisch und ohne Kalkül.
Und so soll es Simon auch halten. Statt an seinen Vorurteilen festzuhalten. Statt sich über die Unterbrechung zu ärgern, nur an seinen Ruf zu denken. Gern wird er das nicht gehört haben.
Und ich, höre ich das gern? Lasse ich es mir von Jesus sagen?
Vor-Urteile mögen nötig und hilfreich sein, weil sie uns helfen, alle Eindrücke schnell in Schubladen zu sortieren. Aber Vor-urteile werden unserem Gegenüber nicht gerecht, ver-urteilen ihn oder sie meist zu Unrecht. Und wir verbauen uns auch viel. Was dagegen hilft? Genau hinzusehen, Wertschätzung. Unser Herz zu öffnen für die, die wir ausgrenzen. Nicht zu sagen: Lass mich in Frieden, sondern: Friede sei mit Dir!
Denn der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Ich lese den Predigttext. Vier Verse aus der Bergpredigt, die beim Evangelisten Matthäus im 6. Kapitel stehen:
Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Leuten zertreten.
Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf dem Berge liegt, nicht verborgen sein.
Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind.
Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.
Sagt Jesus Christus.
Er sagt es zu seinen Jüngern.
Wer heute an Jesus glaubt, ist auch seine Jüngerin, sein Jünger.
Darum gilt Ihnen und Euch:
Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.
Das ist eine Feststellung, ein Zuspruch, auch eine Zumutung. Aber keine Option zur Auswahl.
Naja, liebe Gemeinde, den Kirchenaustrittszahlen nach zu urteilen, scheint unsere Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger Christi heute an Strahlkraft zu verlieren. Viele finden den Geschmack der Kirche fade und ihr Umgang mit Problemen bitter. Und überhaupt, wozu braucht man Kirche heute noch?
Sind wir noch Salz der Erde und Licht der Welt?
Ist es nicht vermessen, das zu behaupten?
Jesus sagt: Ja.
Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Leuten zertreten.
Salz kann nicht schlecht werden und nicht aufhören, salzig zu sein. Es ist eine äußerst stabile mineralische Verbindung. Es hat kein Haltbarkeitsdatum. Was verderblich ist, ist allenfalls organisches Material, was den Salzkristallen anhaftet.
Wenn Jesus vom Salz spricht, das nicht mehr salzt und zu nichts mehr nütze ist, meint er das hypothetisch. Dann denkt er nicht an die Sachebene – das Salz. Das ist immer salzig. Er denkt vielmehr an die Bildebene: an die Menschen. Die können sich weigern, ihre Würzkraft einzusetzen.
Dabei ist Salz ein wertvoller und ein für uns Menschen, ja für die ganze Erde lebenswichtiger Stoff. Auch in kleinen Mengen!
Es braucht gar nicht viel, auf die Menge kommt es nicht an. Auch wenig Salz erfüllt schon seinen Zweck.
Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.
Ich denke an die, die in kirchlichen Chören und Bands singen und spielen und die Gemeindebriefe layouten.
Ich denke an die, die bei Festen mitanpacken,
und die, die Gruppen leiten.
Ich denke an die jugendlichen Teamer
und an alle, die den Gemeindebrief austeilen.
Ich denke an diejenigen, die die Homepage aktuell halten und
an die, die mit Kaffee und Kuchen Menschen in der Kirche willkommen heißen.
Ich denke an die, die Leitungsverantwortung tragen
und diejenigen, die Kinderfrühstücke organisieren.
Ich denke an alle, die in dieser Gemeinde aktiv sind.
Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.
Ich denke auch an diejenigen, die Kinder erziehen und sich um Familienangehörige kümmern. An die, die sich in Vereinen am Ort engagieren oder in den Kitas und Schulen. Ich denke an jede, die freundlich zu anderen ist und hilfsbereit. Die Interesse am Mitmenschen zeigt und nachsichtig ist. An alle, die Nächstenliebe üben in den verschiedensten Weisen. Als Jüngerinnen und Jünger Jesu Christi. Weil Jesus gesagt hat: Liebet Eure Nächsten wie Euch selbst.
Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.
Ja, es sind teils kleine Dienste, nicht welt-bewegend. Und doch unverzichtbar! Was wäre unsere Gesellschaft ohne sie?
Salzkörner sind auch winzig, ein einzelnes ist kaum zu sehen. Doch schon eine Prise macht einen großen Unterschied.
Eine Prise – ich habe es nicht gezählt, aber ausgerechnet: das sind ca. 8.000 Salzkörner. 0,4g ist eine Prise, 50 Mikrogramm ein Salzkorn.
Wo viele sich engagieren und einander zugewandt leben, sieht die Welt anders aus, und Menschen finden Geschmack am Leben.
Liebe Gemeinde, ich war im Urlaub. Ich hatte das Glück, abends den Sonnenuntergang vom Balkon unserer Ferienwohnung aus genießen zu können. Mit Blick auf einen See und Berge am anderen Ufer. Was sich an den Hängen befand, war nicht gut zu erkennen. Viel Wald, manches lag auch im Schatten verborgen. Der herrliche See zog meine Aufmerksamkeit auf sich.
Doch kaum war die Sonne weg, fing es auf dem Berg an mehreren Stellen an zu leuchten: In einzelnen Häusern gingen die Lichter an, so weit weg, so klein, ein einzelnes Licht kaum zu sehen. Doch es wurden immer mehr. Die Lichtpünktchen verbanden sich zu großen Lichterflecken und schafften es, bis zu unserem Ufer herüberzuleuchten. Kleine Städte wurden sichtbar.
So ist das mit den Lichtern: Wenn eitel Sonnenschein ist, sieht man es nicht. Manchmal ist unsere Küchenlampe an, aber wir merken es gar nicht. Doch wenn die Finsternis hereinbricht, scheint das Licht hell auf, wird wichtig. Gibt Orientierung. Ist leitend und tröstend. Dazu ist es ja da.
Es macht keinen Sinn, einen Eimer über die Kerze zu stülpen, sagt Jesus. Die Kerze soll doch Licht spenden und anderen helfen, sich im Haus zurechtzufinden.
Klar, denken wir. Logisch. Aber wir handeln nicht danach. Wir stellen tatsächlich unser Licht unter den Scheffel. So wie es die Redensart, die aus unserer Bibelstelle herrührt, sagt. Wir setzen unsere Gaben nicht für andere ein, aus falscher Bescheidenheit vielleicht, aus Bequemlichkeit womöglich.
Oft meinen wir, wir als einzelne und als kleine Gemeinschaft von Jünger und Jüngerinnen Christi könnten nichts ändern. Wir seien unbedeutend. Wir könnten es auch gleich sein lassen.
Dieser Tage mag angesichts der vielen Krisen in der Welt dieser Eindruck besonders groß sein. Dabei ist es umgekehrt: Gerade dann, gerade jetzt braucht es Hoffnungsmenschen, die ihr Licht leuchten lassen.
„Aber was kann ich als einzelne tun“, fragt sich manche. Sie können in Ihrem Umfeld viel tun. Und zusammen mit anderen kann man einen deutlich wahrnehmbaren Unterschied machen.
„Einen Unterschied machen“ oder „die Welt zu einem besseren Ort machen“, das ist eine Denk- und Ausdruckweise, die einem in den USA auf Schritt und Tritt begegnet: to make a difference, und: the world a better place. Das klingt nach Selbstüberschätzung.
Ich glaube aber, das ist gut biblisch: wahrzunehmen, dass jeder einzelne Mensch eine Berufung hat, eine von Gott gegebene Aufgabe. Jeder hat eine Bedeutung, jedes Leben einen Sinn.
Vor einigen Tagen hatte ich ein Gespräch mit einem Mann, der mir sagte: „Um mich herum halten mich alle für verrückt, dass ich Kirchenmitglied werden will. Ich sei doch ein cooler Typ, was ich denn in dem Verein wolle. Aber ich stehe dazu und vielleicht bringe ich den einen oder anderen dazu, seine Vorurteile über Kirche zu überdenken. Denn wer glaubt, der muss das auch zeigen.“
Und ich würde ergänzen: Es kommt in unserer Welt auf jede Christin und jeden einzelnen Christen an, so wie es in einem Essen auf jedes Körnchen Salz ankommt und auf dem Berg in der Stadt auf jedes Fünklein Licht.
Ihr seid…, sagt Jesus. Es braucht jede einzelne Person. Und als Gemeinschaft seid Ihr die Prise Salz und das Lichtermeer, das die Stadt auf dem Berg weithin sichtbar macht.
Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.
Es ist noch nicht lange her, dass ich in Nürnberg auf dem Kirchentag war. Ich bin ein großer Kirchentagsfan. Ich empfand es als ungemein ermutigend, mit mehr als 8.000 anderen Christinnen und Christen die Abendgebete mit Kerze in der Hand auf dem Marktplatz abzuhalten, oder einer Podiumsdiskussion zu lauschen und mitzudiskutieren, wie Frieden heute möglich werden kann. Wir Jüngerinnen und Jünger sind viele, mehr als nur eine Prise voll. Und das tut gut zu wissen.
Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Leuten zertreten.
Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf dem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind.
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde, es war in meiner ersten Gemeinde, bei einem Trauerbesuch. Dem Herrn, den ich besuchte, liefen die Tränen über die Wange, als er von seiner verstorbenen Frau erzählte.
Seine Tochter war auch da. Sie sagte nichts. Manchmal gibt es keine Worte, die trösten können. Manchmal ist es besser zu schweigen.
Aber sie strich ihrem Vater mit einer sanften Handbewegung über sein Gesicht und wischte ihm die Tränen fort. Er weinte daraufhin noch mehr. Doch seine Tochter nahm ein Taschentuch und fing immer wieder mit zärtlicher Berührung seine Tränen auf. Und er ließ es geschehen. Und nach und nach wurde er ruhiger.
Mich berührte diese Geste so sehr, dass ich sie noch gut in Erinnerung habe.
Von dem, der unsere Tränen trocknet, handelt der biblische Text, der heute der Predigt zugrunde liegt. Ich lese aus dem letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Johannes, Kapitel 21, die Verse 1 bis 5:
Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde,
denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen,
und das Meer ist nicht mehr.
Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem,
von Gott aus dem Himmel herabkommen,
bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.
Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her,
die sprach: „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen.“
Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein,
und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein;
und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen,
und der Tod wird nicht mehr sein,
noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein;
denn das Erste ist vergangen.
Und der auf dem Thron saß, sprach: „Siehe, ich mache alles neu!“
Und er spricht: „Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss!“
Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.
Das ist mein Lieblingssatz hier. Das ist meine Hoffnung. Dass Gott selbst uns tröstet. Ein schöner, zärtlicher Moment. Eine kleine Handbewegung nur, doch voller Fürsorge und Liebe.
– Aber, sie steht ja schon in einem seltsamen Kontrast zu den übrigen Bildern: Das ist von einem neuen Himmel und einer neuen Erde und einer neuen Stadt die Rede – das ist gleich richtig groß, darunter macht es Johannes nicht.
Siehe, ich mache alles neu, sagt Gott.
Nicht das Alte wird repariert, da entsteht etwas völlig Neues, Anderes.
Denn dass das Alte irgendwie wieder gut und heil und lebendig wird, das kann nicht sein, das weiß Johannes. Seine Welt, wie er sie kannte, war untergegangen, die gab es so nicht mehr. Damals, zu seiner Zeit, als die christlichen Gemeinden erstmals verfolgt wurden.
Bedroht, verfolgt, bestraft: Johannes wurde verbannt auf die Insel Patmos. Dort im Exil hatte er Visionen. In manchen Teilen seines Buches, der Offenbarung, sind es sehr merkwürdige Bilder, die ihm erscheinen, furchteinflößende. Er stand ja noch ganz unter dem Eindruck der erlebten Jagd auf die Glaubensgeschwister und der Ermordung unzähliger.
Doch Johannes war es gegeben weiter - oder tiefer - sehen zu können. Er schrieb auch Worte der Hoffnung für die, die in Bedrängnis waren, in Angst, in Verzweiflung. Sätze, die auch uns Hoffnung machen können. Die Bilder, die er dabei benutzt, malt er sozusagen nur in groben Pinselstrichen, deutet nur an, nimmt kaum Farbe.
Aber großformatige Bilder sind es!
Letztes Wochenende war ich in einem Museumsdepot. Dort gab es riesige Bilder, die in keinen Aufzug und durch keine normale Tür passen. Eins war 17 mal 3m.
Ein bisschen so kommen mir Johannes Bilder auch vor. Zu groß, um wahr zu sein. Bilder, die alles sprengen: unser Vorstellungsvermögen, unsere Möglichkeiten, sie in Worte zu fassen, die Wirklichkeit, die wir kennen. Er will uns Einblick geben in Gottes Zukunft für uns. In die Ewigkeit. In der alles ganz anders sein wird. Anders als alles, was wir uns denken können. Eine Welt, in der Christus regiert. Wo Gerechtigkeit und Frieden sich küssen.
Alles anders, neu, ganz neu. Aufregend neu. Schön. Wo Glücksgefühle uns durchströmen. Wie bei einer Hochzeit. Auch die Lesung für heute handelte schon von einem Hochzeitsfest. Wenn auch mit einem anderem Fokus.
Erinnern Sie sich noch an die Ihre, falls sie geheiratet haben? Stellen wir uns nicht auch deshalb Hochzeitsfotos auf, von uns als Braut und Bräutigam, um uns an die schöne Feier und das Glück der Anfangszeit zu erinnern?
So schön und froh und voller Liebe wird es sein, will uns Johannes mit seiner Vision sagen. Kein Tod, kein Leid, kein Geschrei und keine Schmerzen wird es dann mehr geben.
Denn das Erste ist vergangen. Siehe, ich mache alles neu.
Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.
So mancher von Ihnen hat in den letzten Wochen und Monaten viele Tränen vergossen. Sie haben am Krankenbett geweint und am Sarg. Ganz im Verborgenen oder gemeinsam mit anderen. Leise oder laut.
Tränen um einen Menschen, der nun fehlt.
Vielleicht auch Tränen der Erleichterung, weil das unerträgliche Leiden endlich vorbei ist.
Tränen, weil es einfach so furchtbar weh tut, ohnmächtig daneben zu stehen und nichts tun zu können.
Tränen der Verzweiflung: Wie soll es weitergehen?
Tränen um versäumte Momente, um das, was nicht war und doch hätte sein können.
Es ist gut, wenn wir weinen können, liebe Gemeinde. Tränen machen, dass die Trauer nicht erstarrt. Tränen, die fließen, helfen, im Schmerz lebendig zu bleiben.
Und dann ist Gott da und sagt:
Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. So erzählt es der Prophet Jesaja (Jes 66,13). Und er wischt unsere Tränen von unseren Wangen.
Ich frage mich, wie sich das wohl anfühlt, wenn Gott mir die Tränen abwischt? Wenn Gott mich in den Arm nähme, ganz behutsam und liebevoll. Ich stelle mir vor, er sähe mich an und sähe mir tief ins Herz. Er würde jede einzelne Träne auffangen. Nicht eine ginge verloren. Auch die ungeweinten Tränen kennt Gott, und die unterdrückten.
So zugewandt kann nur einer sein, der behutsam ist. Der mich kennt.
Der um meine Verletzlichkeit weiß. Der mir wirklich nahe ist.
Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, heißt es in unserem Predigttext. Gott richtet sich bei uns ein. In einer Hütte. Wörtlich steht da: in einem „Zelt“. Gott schlägt mitten unter uns sein Zelt auf.
Mit einem Zelt ist man beweglich. Gott geht uns nach, schlägt sein Zelt immer dort auf, wo wir sind. Das ist wirklich nah. Nur durch eine Zeltwand ist Gott von uns getrennt. Er schottet sich nicht ab. Er ist in Hör-, ja, Reichweite.
Gott kommt mir nah. Sieht meine Tränen. Trocknet sie, wie die Tochter die Tränen ihres Vaters auffängt. Geduldig und liebevoll. Liebe Gemeinde, das ist mir viel wert.
Und wenn ich wie Johannes auf meiner Insel sitze, verzweifelt, traurig und voller Angst, dann möchte ich am liebsten wie er weitersehen. Oder wenigstens weiterahnen. Dann möchte ich hineinglauben, mich und uns, in Gottes neue Wirklichkeit, die er für uns bereit hält: in den neuen Himmel und die neue Erde. Wo Gott wohnt. Wo es keinen Krieg und keine Gewalt mehr gibt. Keine Krankheit und auch der Tod nicht mehr sein wird, weder Leid noch Schreien noch Schmerzen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus unseren Herrn. Amen.